Helmuth Schönauer bespricht:
Peter Rosei
Die Geschichte geht weiter
Ungemütliche Essays

Eines ist auf jeden Fall festzuhalten: Gemütlichkeit und Denken schließen einander aus. Peter Rosei warnt zur Vorsicht sich selbst und seine Leser vor einem allzu eingelullten Umgang mit der Literatur und ihren Protagonisten. 

Seit Jahrzehnten verfasst er zwischendurch Essays, die sich vor allem mit der Innensicht des Individuums beschäftigen. So kann bei ihm eine These über längere Zeit Gültigkeit haben, unabhängig vom Zeitgeist, wenn nur die Persönlichkeit standhaft bleibt gegenüber sich selbst.

Ein Beispiel für ewige Verhältnisse ist die Freundschaft des Autors zu H. C. Artmann. Nach seinem Jus-Studium bleibt der Ich-Erzähler Peter Rosei mit seinem Entwurf für eine Welt ohne Menschen 1975 literarisch in Salzburg hängen. Der Residenz Verlag nämlich ist dem Text gnädig gesonnen und macht das erste Buch daraus. Salzburg wird dadurch schlagartig zu einem hellen Ort des Wohlbefindens. 

Das hängt auch mit dem Umfeld zusammen, das sich damals als Künstlerkolonie hinter der Brauerei Mülln ausbreitet. Im Mittelpunkt steht H. C. Artmann, der wie eine Nestroy-Figur gekleidet an einem Hühnerteil herumknabbert – seine losen Zähne wackeln und er muss konzentriert beißen. 

Für den aufstrebenden Autor Rosei sind die Grenzen zwischen Literatur und Leben verwischt. Erst Jahrzehnte später kann er es halbwegs auf die Reihe bringen: Literatur ist Freundschaft über den Tod hinaus, man kann sie erst später als Erinnerung erkennen, nicht aber als Leben in Echtzeit.

Diese melancholische Schlussgeschichte der Sammlung scheint im Widerspruch zur eingangs evozierten Gemütlichkeit zu stehen, aber sie erzählt ja nur, dass das Denken zu einem abgerundeten, versöhnlichen Ende führen kann. 

Mit seinem Essay Wie alles begann (153) verneigt sich der Autor auch vor seinem eigenen Antrieb, mit der Literatur in ein freundschaftliches Verhältnis zu treten.
Die knapp dreißig Essays sind wie im guten Feuilleton nach Schwerpunkten rund um die suchende Seele ausgebreitet. Die Texte sind ausgewogen zwischen Standard und Presse aufgeteilt, ein weiterer Beleg dafür, dass Peter Rosei sich um das mit der Gegenwart ringende Individuum kümmert, weniger um politische Wellen, die den individuellen Seegang meist noch verstärken.

Die Kapitel sind als sechs Zugänge überschrieben, wodurch man einzelne Ereignisse gezielt aufsuchen kann. 

Grundbegriffe / Sinn und Unsinn / Philosophisches / Politik / Reise / Literatur

Das sind auch die Beobachtungsfelder, die der Schriftsteller über die Jahre aberntet, wenn das eine oder andere Thema darauf reif geworden ist. Die Herangehensweise an diverse Themen gleicht ein wenig jener des Robert Walser: Naiv hellsichtig lässt er Begriffe wie Glück, Dummheit, Liebe, Zwang oder Kitsch auf sich wirken, ehe er ein paar Zeilen darüber formuliert, was andere sagen oder er selbst schon erlebt hat.

Natürlich ist diese Methode des Walser wie des Rosei höchste Kunst, indem das Wissen um die Begriffe bescheiden zurückgenommen wird. Hinter jedem ausgesprochenen Satz steckt ein verschwiegener, der nur im Autor nistet und später vielleicht auch im Leser, wenn dieser aufmerksam bleibt bei der Lektüre.

Vom Glück (9) // Was Glück genannt wird, ist das deckungsgleiche Zusammenfallen einer inneren Verfasstheit mit äußeren Umständen. Als Beispiel wird der Durst eines Wanderers angeführt, der just mit dem Einsetzen des Mangelgefühls eine frische Quelle erspäht. Das Glück arbeitet außerdem als Kategorie ohne Verstand, weshalb im Sprichwort gerade der Dumme das Glück hat. Leider gibt es deshalb auf der Welt mehr Unglück als Glück, lautet der Schlussbefund.

Eine weitere bemerkenswerte Herangehensweise an die Themen ist jene über das Bild, vor allem der Malerei. Das sind vielleicht die Spuren aus jener Zeit, in der Peter Rosei als Sekretär des Malers Ernst Fuchs gearbeitet hat. Vom Gang der Dinge // Gehe ich in der Landschaft und sehe fern drüben große Wolken ziehen, komme ich mir angesichts ihrer Mächtigkeit klein vor, wie ein kleines Tier etwa, wie ein kluges Tier dazu. […] Der Mensch geht Tausende von Jahren in der Landschaft und sucht sich sein Leben einzurichten. (71)

An diese Bilder aus Sätzen lassen sich dann allerhand Erkenntnisse andocken, unter anderem das Motto des Buches, das am hinteren Cover prangt. Wie heißt der schönste Satz jeder Erzählung? Die Geschichte geht weiter.

Die Essays sind zwischen 2021 und 2023 entstanden und haben ihren Platz in der Tagesaufmerksamkeit verloren. Höchste Zeit also, dass sie als Buch in konzentrierter Form nachzulesen sind. Es wäre nämlich ewig schade um diese eleganten Analysen, Beschreibungen oder puren Notizen.

Wer hundert Jahre in die falsche Richtung gegangen ist, hat weit zurück. Es gibt aber kein Zurück. Zurück – das ist die falsche Richtung. (80)

Peter Rosei: Die Geschichte geht weiter. Ungemütliche Essays.
Wien: Sonderzahl 2024. 158 Seiten. EUR 20,-. ISBN 978-3-85449-653-3.
Peter Rosei, geb. 1946 in Wien, lebt in Wien.


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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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