Marta Marková
Schicksal und totalitäre Geschichtswahrnehmung
3. Teil: Zacharias
Seit seiner Geburt hatte Zacharias alle sozialen, ethnischen und politischen Veränderungen aktiv miterlebt, die Jan und Mara erst aus den Erzählungen ihrer Angehörigen erfahren hatten. Jans Interesse galt primär dem Holocaust. Die Nachkriegsereignisse um die 1950er Jahre in der Tschechoslowakei, als er ebenso vier Jahre alt war wie Zacharias bei seiner Flucht, klammerte er aus Selbstschutz aus. Für Zacharias griechische Landsfrau Mara war wiederum die moderne Oral-History der Zeitgenossen ausreichend, sie stellte keine weiteren Fragen. Zacharias ist der älteste von drei Auskunftspersonen, ein nichtjüdischer Auslandsgrieche.
Was sie alle als gemeinsamer Nenner verband, war der kommunistische Glaube ihrer Eltern an eine Utopie. Die daraus abgeleitete Sozialisierung prägte sie derartig, dass sie sich in der realen kommunistischen und auch in der postkommunistischen Gesellschaft nicht mehr zurecht fanden.
Zacharias lebt nach wie vor in einem Nordmährischen Dorf. Im Unterschied zu Mara wurde er noch in Griechenland geboren, im nordwestlichen Teil des Landes. Als vierjähriger Bub floh er 1948 mit seiner Mutter und den drei älteren Geschwistern von Kastoria über die Berge nach Albanien – vor den Truppen der griechischen Regierung, die von den Westmächten unterstützt wurden. Und Zacharias erzählte mir eine ganz andere Geschichte Griechenlands als Mara.
Sein Vater, ein gut situierter Bauer, war der Kommandant der kommunistischen Partisanen der Region Kastoria. Mit seinen 200 Männern „sicherte“ er die Flucht der Familien, der Frauen und Kinder. Diese waren vom blutigen Kampf ums Überleben gekennzeichnet. Wie lange hatte der Abzug gedauert? Das weiß Zacharias nicht mehr, obwohl er ganz spontan sagte: eine Ewigkeit. Auf der Flucht wurde seine Familie auseinander gerissen. Die älteren Geschwister gingen verloren und waren für längere Zeit verschwunden, nur er als Jüngster blieb, am Rücken seiner Mutter festgebunden. Noch in Albanien erkrankte er an einer langwierigen Lungenentzündung und deshalb waren sie auch gezwungen, in Elbasan zu bleiben. Es gab damals keine medizinische Versorgung, kein Penicillin, man konnte nur ausharren und hoffen.
Wie war es damals in Albanien? Während des II. Weltkrieges herrschte in Albanien ein Partisanenkrieg gegen die italienischen und später gegen die deutschen Besatzer. 1944, in Zacharias Geburtsjahr, wurde Albanien befreit, aber der kommunistische Führer Enver Hoxha errichtete sofort eine Alleinherrschaft. Zuerst schloss er eine politische Allianz mit dem kommunistischen Jugoslawien, UnterJosip Broz Tito. Aber schon im Juli 1948 – während der griechischen Fluchtwelle – kündigte er das Bündnis zu gunsten eines besonders engen Verhältnisses mit der Sowjetunion auf. Durch die vielen Flüchtlinge nahmen auch die ethnischen Spannungen zu. Die griechische Minderheit in Albanien war rasch angewachsen, und dies trug zu einer noch weitgehenderen Verarmung und zu chaotischen Zuständen bei.
Zacharias erwähnte die Armut in Albanien, berichtete über die anhaltende Hungerperiode – ähnlich wie später 1949 in Rumänien und 1950 in Ungarn, in Szeged und Heves, wo sie ständig im Freien schliefen und nach Essbarem suchten. Und er erzählte von der Suche der Mutter nach den älteren Kindern, über das Rote Kreuz. Erst in Ungarn kamen sie als Familie wieder zusammen. Nur vom Vater fehlte nach wie vor jede Spur. Er erzählte über Budapest, wo er zur Schule ging, von der ersten bis zur siebenten Klasse. Die Familie blieb in Ungarn, bis 1956 der Aufstand gegen die kommunistische Herrschaft ausbrach. Die Straßenkämpfe, die brutalen Morde, abgeschnittene Füße und Hände, an den Straßenlaternen aufgehängte Menschen, mit Kopf nach unten, mit Benzin übergossen: All das blieb fest in seiner Erinnerung. In dieser Zeit erreichte seine Familie auch die Nachricht, dass niemand aus der Kompanie seines Vaters die Kämpfe in den Bergen im griechisch-albanischen Grenzgebiet überlebt hatte – auch nicht der Vater. Wie alt waren zur Zeit der Flucht seine Eltern gewesen? Der Vater war in den Vierzigern, die Mutter 36 Jahre alt.
Als in Ungarn ein Grieche aus ihrer Gruppe ermordet wurde, zogen sie sofort um, in die Tschechoslowakei. Ein ganzer Zug fuhr zuerst nach Bratislava, dann nach Nordmähren, in die Richtung von Ostrava (Mährisch Ostrau). Im nahen Kinderheim Šilhařovice erwartete sie ein erstes, eigenes, überzogenes Bett mit Frühstück! Warmes Essen! Wie im Himmel! Ein Paradies!
Es waren insgesamt etwa 400 griechische Kinder, aufgeteilt und getrennt nach Geschlecht, er als Jüngster durfte bei seiner Mutter bleiben. Mit ihm kamen aus Ungarn zwölf weitere griechische Kinder. Sie waren Waisen oder Halbwaisen, alle anderen Kinder hatten noch beide Elternteile, eine komplette Familie. Das hat er nie verstanden: Wie war das, eine ganze Familie zu haben? Wie war es nur möglich, fragte er sich immer wieder, dass die meisten meiner Zeitgenossen noch beide Elternteile haben?
Erst viel später fand er eine Erklärung dafür: 1948 waren nicht nur die Familien der kommunistischen Partisanen auf der Flucht, sondern auch all jene, die einfach nur „mitgehen“ wollten; Arme, die nichts zu verlieren hatten, aber viel zu gewinnen hofften. Noch im Kinderheim gründete er mit seinen Freunden aus Ungarn die Gruppe „Schwarze Lilie“ – aus Verehrung für seinen Vater, der ihm schmerzlich fehlte, und aus Verehrung für seines Vaters Mitkämpfer. Er suchte sich nur solche Kinder als Freunde, die Waisen waren – oder die nur einen Elternteil besaßen. Das war für ihn die Grundlage seines Selbstverständnisses.
Im Kinderheim Šilhařovice war die Heimerziehung auf eine Berufslehre oder ein technisches Studium ausgerichtet, als eine Vorbereitung für danach, für eine Zukunft wieder in Griechenland. In den Städten Jeseník (Freiwaldau im Altvatergebirge), Krnov (Jägerndorf ), Šumperk (Mährisch Schönberg) lebten viele griechische Familien. Es gab auch einen kleinen Trost für ihn, auch er hatte noch Verwandte im der Gegend – die Schwester seines Vaters lebte seit 1950 in Loučná nad Desnou (Wiesenberg).
Als 15jähriger übersiedelt er zum Besuch der HTL, der Höheren Technischen Lehranstalt, in die Stadt. Wieder war es für ihn ein vollkommen fremdes soziokulturelles Milieu, in dem er sich zuerst behaupten musste. Nach Lernschwierigkeiten, die sich besonders im Russisch-Unterricht zuspitzten, sattelte er um und erlernte den Beruf eines Werkzeugmachers. War es dann nur ein Zufall oder eine glückliche Fügung, dass gerade er die Tochter eines nicht vertriebenen Deutschen kennenlernte? Zacharias erfuhr viel von den Erzählungen seines zukünftigen Schwiegervaters, der als Bürger des Dritten Reiches in die Wehrmacht einrücken musste. Gegen Kriegsende desertierte er. 1945 kam er als „Befreier“ zurück in das „Sudetenland“. Kein Wunder, dass er den Griechen für seine Erstgeborene, seine hübsche blauäugige, blonde Tochter durchaus für würdig befand.
Im Privaten hatte Zacharias nun Glück. 1967 heiratete er in Nordmähren und gründete eine Familie. Die erste Tochter wurde 1967 geboren, 1969 die zweite. Bald darauf zeichnete sich das Ende der seit 1967 herrschenden Militärdiktatur in Griechenland ab. Für die Auslandsgriechen schien dies einen positiven Schlussstrich unter die Geschichte zu ziehen. Mit dreißig startete Zacharias eine ein ganzes Jahrzehnt dauernde Anabasis, eine Heimreise, die auch zu einer weiteren Spaltung seiner ursprüngliche Familie führte: 1975 siedelt er sich auf der Insel Zypern an.
Warum gerade Zypern? Wie waren dort die Verhältnisse? Die ethnischen Konflikte zwischen den Volksgruppen der türkischen und der griechischen Zyprioten, angeheizt vom griechischen und vom türkischen Militär, eskalierten im Sommer 1974. In diesem Jahr stürzten griechische Nationalisten die von Griechenland und der Türkei anerkannte Regierung von Erzbischof Makarios. Es folgte die Besetzung des Nordteils der Insel durch türkische Truppen – und ein Bevölkerungsaustausch: Türkische Zyprioten zogen in den Norden, griechische in den Süden. Die Insel war faktisch geteilt.
Den entscheidenden Impuls hatte ihm die um zehn Jahre ältere Schwester gegeben, die bis dahin in Prag Medizin studiert hatte und deren Freund ein Zypriote aus London war. Die beiden heirateten und ließen sich in Zypern nieder. Es war auf Zypern – der Mittelmeer-Insel mit ihren mehr als 300 Sonnentagen, wo man durchaus auch noch im November im Meer schwimmen konnte – wo Zacharias die Spaltung der griechischen Kommunisten in eine prosowjetische und eine „eurokommunistische“ Partei“ miterlebte.
1980 fuhr er zum ersten Mal nach Griechenland, wo er die dortige politische und wirtschaftliche Lage genau beobachten wollte. Er suchte nach Spuren seines Vaters und dessen Partisanen-Kompanie. Als er sich endlich in den ländlichen Grenzgebieten des nördlichen Kostaria als Sohn des gefallenen Kommandanten zu erkennen gab, kam es zu einem heftigen Streit.
Im Jahre 1983, als er bei einem Besuch in Mährisch Schönbergs Textilfabrik Hedva mit seiner nunmehr bestätigten griechischen Staatsbürgerschaft auftrat, wurde ihm ein Aufenthaltsverbot erteilt. Darauf entschloss er sich, nach Deutschland zu übersiedeln, wo er eine Arbeit in Frankfurt am Main bei einem Pelzhändler fand. Doch schon 1988 zog er erneut nach Griechenland, wo inzwischen auch seine Schwester lebte und als Ärztin arbeitete. Erst In den Jahren 1993 und 1994 kehrte er definitiv in die Tschechische Republik zurück, um einen Handel mit Steinen zu eröffnen, vor allem zum Import von Marmor und Onyx aus Griechenland. Zuerst auf dem verlassenem Gelände einer Kooperative unweit seines Wohnsitzes, später in Blauda (Bludov), auf der Liegenschaft der ehemaligen Habermann- Mühle. In den letzten Jahren übergab er seine Unternehmen schrittweise an seine ambitionierten Nachkommen. Seine Frau, eine pensionierte Krankenschwester, durfte sich freuen. Durfte sie?
Warum erzähle ich diese drei Biographien von zwei Männern und einer Frau der kommunistischen Nachkriegsgeneration, die damit beschäftigt war, die Traumata ihrer Eltern verarbeiten zu müssen – nicht so viel anders als die Nachkommenschaft der Holocaust-Überlebenden? Einfach deshalb, weil ich zu der Risikogruppe gehöre, die der „Gleichschaltung“ der Geschichtswahrnehmung zu widerstehen versucht.
Die tschechoslowakische KP interpretierte ihren im mittelosteuropäischen Vergleich einmaligen relativen Wahlerfolg bei der ersten Wahl nach 1945 und beim Putsch von 1948 – der ihre Alleinherrschaft herstellte – als historischen Auftrag. Davon waren auch die Minderheiten im Land betroffen – die Minderheiten der Vergangenheit, die „ausgesiedelt“ (also vertrieben) waren; und die nach 1918 und nach 1945 zugezogenen Minderheiten, die ein Exil im Exil bildeten. Die Täter- und Opferrollen wurden nicht offen diskutiert, oft einfach nur umgekehrt. Der humane Individualismus war vom staatlichen Totalitarismus überlagert.