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Helmuth Schönauer bespricht:
Castle Freeman
Herren der Lage
Roman

„Wir leben hier. In diesem Tal. Wir sind ebenfalls keine Idioten. Und wir langweilen uns nicht. ‒ Manchmal vielleicht ein kleines bisschen.“ (120) Diese Beschreibung eines entlegenen Landstrichs von Amerika ist vielleicht das genaue Gegenteil von Tirol und heizt dadurch unsere Sehnsucht an.

Castle Freeman zeigt in seiner kleinen „Vermont-Saga“, wie die Idylle unversehrt bleibt, weil sich die Menschen weigern, das Schlimme zur Kenntnis zu nehmen. In einem abgelegenen Tal in Vermont sind zumindest die Rechtsvertreter, der alte und der aktive Sheriff, „Herren der Lage“.

Lucian Wing, der unauffällige Ich-Erzähler, berichtet von seinen Arbeitseinheiten als Sheriff, es ist immer etwas los, aber selbst verzwickte Situationen lösen sich von sich aus in Wohlgefallen auf, wenn man nur nichts überhastet. Das Erfolgsrezept für ein Leben an der Peripherie lautet: Deeskalation! Wenn aufgebauschte Sachverhalte einmal eingedämmt und seine Umrührer besänftigt sind, lässt sich bald einmal der nächste Arbeitseinsatz bewältigen.

Gleich zu Beginn führt der Erzähler vor, wie er einen Fall unter Kontrolle bringt. Der Name des Täters bildet das Schlüsselwort für die Suche späterer Generationen in den Annalen. Unter „Rhumbas Deeskalation“ werden sie nachlesen können, wie ein Heißsporn Amok läuft und die Familie als Geisel nimmt.

Lucian Wing muss überlegen, ob Rhumba blufft und überhaupt eine Waffe hat. Er entscheidet sich nach seinem Bauchgefühl für unbewaffnet und tatsächlich, nach einem gemütlichen Wortwechsel kann der vorgebliche Amokläufer zur Nachbetreuung auf die Polizeistation mitgenommen werden.

Als Leitbild für Kalmierung dient immer noch der alte Sheriff Wingate, der freilich mittlerweile ziemlich vertrottelt ist und selbst ständig Einsätze auslöst, und sei es auch nur, weil er besoffen die Orientierung verliert und dabei von der Fahrbahn abkommt. In hellen Momenten ist er stolz auf seine Lebensleistung nach vierzig Jahren Dienst: „Die Hälfte der Leute hab ich irgendwann mal festgenommen, und die andere Hälfte hätte ich festnehmen sollen.“ (64)

Bodenständig und geerdet ist auch das Verhältnis des Erzählers zu seiner Frau Clemmie. Einst hat er sie als gefallenes Mädchen nach einer Fehlgeburt ins Krankenhaus gebracht, wo sie beinahe verblutet wäre. Unsaubere Schwangerschaften sind am Land gefährlich, weshalb man gut daran tut, zum Sex auch den Ehering zu schmieden. Nach dem Krankenhaus haben die beiden sofort geheiratet. Jetzt sind sie schon lange ein eingeschworenes Paar, das einen sehr lauten Umgang miteinander pflegt, sodass zufällige Gesprächszeugen immer davon ausgehen, dass bald geschossen wird.

Größere Vorkommnisse erkennt man am Land daran, dass sie entweder länger als einen Tag dauern, oder von jemandem initiiert werden, der sonst in New York seine Geschäfte macht. Ein Anwalt aus NY taucht spontan auf, und bittet den Kleinpolizisten, dass er ihm diskret bei der Suche nach einem minderjährigen Mädchen hilft, das vor Antritt eines Erbes ausgebüxt ist oder entführt wurde.

Recherche am Land bedeutet, dass man hinter vorgehaltener Hand so tut, als könne man ein Geheimnis hüten. Tatsächlich aber wird alles als Behauptung sofort herumerzählt, die Fügung „wir haben unsere Quellen“ garantiert, dass es ein bodenständiges Gerücht ist. (17)

Während der Suche nach dem Mädchen läuft der Alltag weiter, eine ausgehobene Marihuana-Plantage erweist sich als Fake, denn das Gras ist harmlos. Eine Waldschneise der Verwüstung erweist sich als Ausbruch eines kapitalen Hausschweins. Und ein illegales Camp, bestehend aus einem Schlafsack und einer Flöte, verweist auf ein Hippie-Paar, das mit seinem nostalgischen Kult völlig überfordert ist.

Als das Mädchen längere Zeit nicht gefunden wird, treten immer diffusere Typen in Erscheinung, die teils Grundstücksgeschäfte, teils Drogendeals, teils Entführungen aufblitzen lassen. Die aufgewühlte Szenerie spitzt sich zu und beim Relaxen auf der Sheriff-Veranda hat Clemmie den richtigen Riecher: diese Mädchensuche ist ein Ablenkungsmanöver für einen knallharten Steuerbetrug, der soeben via Homeoffice abgewickelt wird.

Als die Kontrahenten der neu angekommenen Gangs mit scharfer Munition aufeinander losgehen, bricht abermals das übermächtige Schwein aus und zerlegt alle, die nicht rechtzeitig die Flucht ergreifen. Alles ist geklärt, das Mädchen wird während der Aktion volljährig und alle Machenschaften dadurch legal. Als die offiziellen Ordnungshüter aus New York kommen, kann der Posten vor Ort stolz verkünden: Wir sind Herren der Lage.

Castle Freemans Land-Roman ist als Idylle aufgebaut, die sich quasi von selbst verfilmt. So in etwa schaut ein Leben in einem entlegenen Flecken Amerikas aus, von dem wir in der Weltgeschichte nur dann etwas erfahren, wenn der falsche Präsidenten gewählt wird. Sonst ist alles wie bei uns in Tirol, könnte man sagen, viel Tamtam um einen trivialen Alltag, der nur deshalb interessant ist, weil er schwarz-weiß und kaltschnäuzig erzählt wird.

Castle Freeman: Herren der Lage. Roman. A. d. Amerikan. von Dirk van Gunsteren. [Orig: Children of the Valley, Richmond 2020].
München: Hanser 2021. 155 Seiten. EUR 20,60. ISBN 978-3-446-27075-6.
Castle Freeman, geb. 1944 in San Antonio/Texas, lebt in Vermont.



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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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