Helmuth Schönauer bespricht:
Matthias Schönweger
Gebucht Ein Drehbuch
Reise auch ein Tunwort
Reise auch ein Imperativ
Abb

Das ideale Denkmal besteht aus einem Sockel, zu dem man sich allerhand hinzudenken kann. So ein Denkmal ist naturgemäß zeitlos und nicht auf die Referenz der jeweiligen gesellschaftlichen Lage angewiesen. Solche Denkmäler werden auch selten gesprengt, weil die Sprengmeister oft gar nicht mitkriegen, dass es hier etwas zu sprengen gäbe.

Matthias Schönweger schreibt seit Jahrzehnten an einem Buch, das wie das Sockel-Denkmal in der Hauptsache aus Buch besteht. Die neueste Ausgabe trägt sogar den aufschlussreichen Titel gebucht. Damit ist einerseits der sogenannte Inhalt als tauglich für ein Buch deklariert, andererseits deutet der Begriff darauf hin, dass etwas erledigt ist, das man nur noch absitzen muss.

Vor allem im Tourismus spielt das Wort eine große Rolle: Wenn ein Urlaub gebucht ist, ist er auch schon erledigt und muss nur noch abgesessen werden. Wenn das Buch gebucht ist, ist es erledigt und muss nur noch abgesessen werden. Man kann auch lesen dazu sagen.

Lesen freilich ist ein großes Wort, das dem Phänomen Matthias Schönweger nur bedingt gerecht wird. Seine Bücher muss man sich als Meteoriten vorstellen, die verlässlich Staub aufwirbeln und einen Krater schlagen. Aus diesem Grund haben sie alle Ziegelformat (konkret 1548 Gramm), damit man die Gravitation haptisch erfassen kann.

Beim Rezensieren von Gebucht geht es scheinbar um alles, nur nicht um den Inhalt. Aber dieser ist verschlüsselt durch raffinierte Buch-Technik, damit eben nicht jeder blank und unvorbereitet auf den Inhalt stößt. 

Am Buchrücken ist Drehbuch aufgedruckt. Das weist darauf hin, dass man das Buch von zwei Seiten her lesen muss, in der Mitte (Seite 312) empfiehlt sich dann ein Drehen, damit man weiterhin Buchstaben aufrecht lesen kann.

Die Doppelseiten sind als Flügelaltar mit vier Komponenten gestaltet: außen wird die schwarze Masse mit weißer Schrift aufgekratzt für die Botschaft, innen schaut es kurzfristig aus wie eine Buchseite, freilich ist alles in Versalien gesetzt, und im vorderen Teil wird im zentrierten Satzspiegel die Botschaft zu Inschriften eingedickt. Im hinteren Teil verkriecht sich die Botschaft ins obere Bilddrittel und lässt viel Platz, um darunter die Gedanken zu vervollständigen.

Die sogenannten Textpartien sind regelmäßig von Bildbögen durchzogen, die eine seltsame Marmorierung zwischen Bild und Schrift ergeben.

Einmal ins Innere von Gebucht gelangt, tut sich erst recht wieder gepflegte Unordnung auf. Die Texte sind zwar tapfer mit Seitenzahlen versehen, streben aber Gleichzeitigkeit an, die wie bei Inschriften von allen Seiten aus gelesen werden kann. Die Versalien erhöhen die Unschärfe der Wortbedeutungen, denn wie schon auf dem Cover vermerkt, kann es sich bei Reise sowohl um ein Tunwort als auch um puren Imperativ handeln.

Die Texte stechen bei jedem Lesedurchgang in einem neuen Leselicht hervor. Je nach Tagesverfassung blenden sie sich selbst in den Vordergrund oder tarnen sich in der Lesemasse.

Bei einem sommerlichen Durchblättern könnten beispielsweise folgende Sätze aus dem vorderen Buch (Buch 1) hervorstechen:

– Durch mehrfache Umschichtung der Wörter, der Sätze und Zeichen der Gedanken mache sich ein Gedicht auf den Weg / so es gut läuft. (9)
– Zum Glück fehlt mir nichts / und doch hätte ich gerne mehr davon. (35)
– Die verkannten Granden / sind hinterher / ihrer Zeit voraus gewesen. (41)
– Literatur hat System / die Lektüre der Leserschaft / der Leserschaft die Lektüre. (204)
– Mit dem Rücken zur Wand / stehen Bücher selten. (245)
– Bin Alleinerbe / erbe allein / von meinen Vorfahren / mich. (273)

Die Bilder dokumentieren diverse Installationen, Happenings und zeitgeschichtliche Eruptionen, wenn anhand von Alltagsfetischen plötzlich der Zeitgeist aufreißt und Teile der dunklen Psyche der Zeitgenossen heraus speit.

Hinter dem üblichen Nutzen des Buches, nämlich dass die Zeit sowohl beim Autor als auch beim Leser in ein Vorher und Nachher geteilt wird, ermöglicht das Drehbuch noch zusätzlichen Gewinn:

– Das Buch ist als Platzhalter konzipiert. Wo es steht, hat kein anderes Buch Platz.
– Das Buch ist als Dokumentation angelegt, indem etwa Metatexte, Rezensionen und programmatische Schriften zum Oeuvre des Autors eingespeist sind.
– Das Buch ist ein mit Sinnformeln prall gefülltes Depot, das einen Gutteil jener Sinnfindung abdeckt, die wir in Zukunft noch brauchen werden.

Matthias Schönwegers Buchkunst arbeitet im Eichmaß der Gutenbergbibel: Der Anlass wird längst vergessen sein, die Maßnahme wird bleiben. Gebucht wird wahrscheinlich die Letzte Generation überleben.

Matthias Schönweger: Gebucht. Ein Drehbuch. Reise auch ein Tunwort. Reise auch ein Imperativ. Abb.
Bozen: Edition Raetia 2023. 624 Seiten. (2 x 312). EUR 40,-. ISBN 978-88-7283-884-6.
Matthias Schönweger, geb. 1949 in Tscherms, lebt in Meran.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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