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Helmuth Schönauer bespricht:
Martin Mandler
Kleiner Vogel Glück
Roman

Wenn die Vögel aussterben, erfahren Romane mit dem Wort Vogel im Titel umso heftigere Aufmerksamkeit. Martin Mandler nennt seinen Roman über einen modernen Hans im Glück nach jener Volksweisheit, wonach das Glück ein Vogerl sei, das sich mal hier, mal dort niederlässt.

Dieses sprunghafte Herum-Navigieren wie ein Vogerl ist auch das Erzählmuster, das dem Roman zugrunde liegt. Ein Glücksforscher im Hintergrund schiebt diverse Figuren durch das Tableau der jüngeren Zeitgeschichte. Dabei nimmt er den Leser mit auf der Suche nach außergewöhnlichen Glücksgeschichten. Der Leser wird eingeladen, die Helden gemeinsam aufzusuchen und mit ihnen ein Stück des Wegs zu gehen, der zwischendurch vom Vogerl Glück gekreuzt wird. Die Themen werden auf diversen Zeitachsen aufgespürt, mal als Fiktion, dann als Überlieferung, schließlich als Mythos oder Lehrbeispiel.

Kern der Geschichte ist ein Hans im Glück aus dem vorigen Jahrhundert, der im Ersten Weltkrieg als heimisches Bauernkind an der Dolomiten-Front eingebunkert ist in einer grandiosen Landschaft. Von dieser kann er sich nur unter Lebensgefahr eine Scheibe abschneiden, wenn er heimlich ins Freie kriecht in der Hoffnung, dass er vom Feind nicht gesehen wird. Aber Krieg hin oder her, wenn man es schafft, alles auszublenden bis auf die ikonenhafte Schöpfungslandschaft, dann stellt sich sogar etwas wie Glück ein, während man dies alles sehen und in Worte kleiden darf.

Dieser Erste Weltkrieg im Gebirge ist unerträglich, und Hans muss alle seine Phantasie aufwenden, um ihn im inneren Monolog mit Worten in den Griff zu kriegen. Als er beispielsweise seinen vor Hunger dürren Körper betrachtet, fällt ihm das Bild der untergewichtigen Kaiserin Sisi ein, die mit etwa fünfzig Kilo Lebendgewicht in Genf abgestochen wurde. Wenn das schon einer Kaiserin passiert, warum sollte es nicht auch ihm passieren, da er ja für dieses Kaisertum untergewichtig an der Front liegt.

Der Roman selbst sucht wie sein Held einen passenden Zugang zu dieser grausigen Geschichte in einer wunderschönen Landschaft. Auf einer Alm sitzen angetrunkene ältere Herren und prosten sich als Fratelli zu. Sie werden von einer Sennerin bewirtet, die um 1955 einem ganz anderen Licht der Zeitgeschichte unterliegt. Die Feinde von damals haben ihren Krieg vergessen, aber ihre Geschichten köcheln noch dahin, was heißt, dass sie als Bombenleger jederzeit aktiviert werden könnten.

Vor den Nord- und Südtiroler Landhäusern arbeitet man indessen am sogenannten landesüblichen Empfang, worin die Front mit stumpfen Waffen nachgestellt ist, ehe alles mit dem martialischen Schnapsl hinuntergeschluckt wird.

Vom Hans im Glück hören wir später, dass er dem Tod nur entgangen ist, weil er die Kugel gehört hat, ehe sie am Ohr vorbei gepfiffen ist. Du musst den Tod hören, ehe er eintritt, sonst kannst du dich nicht zu Boden werfen und dem Unglück ausweichen. Da begreift man wirklich fast zu spät, dass man tot ist. (174)

Zum Überlebensglück des Hans gehört auch die Mitarbeit des Feindes. Als eine Lawine alles zu überrollen gedenkt, schreitet ein gewisser Giovanni von der Gegenseite ein und rettet alle. Später entsteht diese Fratelli-Freundschaft, die Voraussetzung für Glück ist. Giovanni und Hans gelingt tatsächlich ein passables Leben, und am Grab des einen wird Hans noch einmal erklären, dass man es selber finden muss, das Glück, indem man es in Worte fasst, wie der Rahmen das Bild.

In knapp zehn Abschweifungen stochert der Roman in Schicksalen herum, die zumindest einen Glücksvorfall hatten, einem Bandscheibenvorfall nicht unähnlich.
Einem Helden aus Innsbruck gelingt sogar beides, Glück und Unglück unter einer Kontonummer. Zuerst kommt er vor Gericht, weil irrtümlich eine alte Video-Rechnung offen ist, später kommt der Irrtum ein zweites Mal, jetzt überweist die Bank ein Vermögen. Der Held genießt und schweigt.

Aber nicht nur das Geld kann glücklich machen, wenn die Situation stimmt, manchmal geht es um das pure Überleben. Eine Kleinfamilie leistet sich einen Luxusurlaub in Brasilien und gerät in eine Schießerei. Aller Glanz am Auto ist zerfetzt, aber die Helden überleben.

Für die historische Aufarbeitung braucht es Zeit und Glück. Ein Dachdecker am Kirchturm sieht, wie unten jemand auf ein Nazigrab brunzt, prompt fällt er vom Dach und überlebt, weil er historisch auf der richtigen Seite steht. (48)

Dem Hans an der Front gehen die Geschichten zeitlos durch den Kopf. Man müsste eine Tat setzen wie der Attentäter Gavrilo Princip in Sarajevo, um unsterblich zu sein. Tatsächlich stirbt der Held im Roman erst 2018, bei einer Hundertjahrfeier ist er immer noch am Leben.

Im Krankenhaus Lienz ist die Front zwischen Leben und Tod immer zum Greifen nah, sie geht mitten durch die Krankenzimmer. Der eine kriegt einen Bypass und macht weiter, der andere muss mit der Diagnose austherapiert zurechtkommen. Und oben in den Bergen leuchtet die Dolomitenfront, die Sonne gehört allen und verströmt Schönheit (19).

Martin Mandler lässt dem kleinen Vogel Glück freien Lauf, es liegt am Leser, ihn rechtzeitig zu sehen und ein paar Worte mit ihm zu wechseln.

Martin Mandler: Kleiner Vogel Glück. Roman.
Coesfeld: Elsinor Verlag 2023. 188 Seiten. EUR 19,60. ISBN 978-3-942788-77-9.
Martin Mandler, geb. 1978 in Lienz, lebt in Kail / Eifel.


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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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