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Helmuth Schönauer bespricht:
Stanislav Struhar
Das Gewicht des Schattens
Roman
Mit einem Nachwort von Kristina Kallert

Stanislav Struhar versetzt seine Helden in den Modus von Schatten, alles ist seltsam leicht und dennoch bunt, die Konturen der Handlungen gleichen Erinnerungen und fransen zwischendurch aus, die Stabilität der Körper zuckt fahl über jene Oberflächen, auf denen sie agieren. Bald kommt einem die Höhlenparabel von Platon in den Sinn, worin auf der Suche nach Wahrheit alles zu Schatten wird.

Der Roman startet mit der luziden Fröhlichkeit eines Airbnb-Wochenendes, Elias fliegt von Wien nach Lissabon, um die Wohnung seiner verstorbenen Großeltern zu übernehmen. Eine intime Erkundung einer fremden Stadt beginnt man am besten im Treppenhaus des Hauses für die Nacht, Elias lässt sich vom kühlen Turm des Treppenschachtes in die Höhe reißen zur Wohnung seiner Vorfahren. Ein gewisser Diego weiht ihn in die wichtigsten Handgriffe für Lissabon ein, auf der Kommode steht ein Bild der Großeltern und überwacht das Heimischwerden.

Im Nachwort ist dieses Introito als Ankunft im Leichten beschrieben, nichts ist so verpflichtend, dass man es recherchieren möchte. Was einem zufällt, reicht vollends als Wahrheit für die nächsten Tage.

Diego hat die Großeltern bis zum Schluss gepflegt, er weiß um geheimnisvolle Geschichten, die stets nach Wien führen, um dort in einem Schattenreich der Erinnerung zu versickern.

Bald wird Diegos Tochter vorgestellt, die das Leben euphorisch zelebriert und bald darauf tot aufgefunden wird. Sie hatte Probleme, (42) heißt es lapidar. Liebe und Tod liegen nur eine Handbreit auseinander.

Elias versucht, den Schatten der Personen mitzudenken, wenn sie ihm vorgestellt werden. So wie er bei Erzählungen immer jenen Spuren nachgeht, die sein Familiengeflecht durchziehen und dabei im Unausgesprochenen enden. Seine Familie ist über den ganzen Kontinent verstreut, wahrscheinlich ein Ergebnis von Schicksalsschlägen, die nun mit gespielter Leichtigkeit übertüncht werden.

Während die Helden sich jäh und heftig begegnen, mal kurz als Freundschaftspaar unterwegs sind, dann wieder verschwinden oder sterben, spült der Atlantik ständig Geschichten an Land. Zwischen der Leichtigkeit der Wellen sind die matten Kiesel der kolonialen Vergangenheit zu sehen, aus ihnen haben sich vielleicht Menschen entwickelt, die jetzt, aus den ehemaligen Kolonien zugewandert, in der Stadt unterwegs sind.

Elias findet die Zuneigung der Buchhändlerin Raquel, mit ihr steigt er in den Atlantik, lässt sich die Stadt zeigen und durch portugiesische Literatur verführen. Ihr Geheimnis liegt in dieser Gelassenheit, mit der die Menschen in Lissabon überschüttet werden, ehe sie in einen Abend voller Fado und Phantasie eintreten.

Eine Dichterin bestreitet ihren ersten literarischen Abend in der Stadt, sie fällt durch ihre Kunst von außerhalb auf, die eine Nuance von der etablierten Stadtkunst abweicht.

In der Buchhandlung wird Tag und Nacht über Dichtung, Fado, Romane und Lissabon geredet. Kein Touristenprogramm der Welt vermag eine solche Welt zu evozieren, wie sie in einer Buchhandlung in permanenten Eruptionen ausbricht. 

Wer geglaubt hat, dass Angeln das Entspannendste auf der Welt sei, darf Zeuge einer Steigerung werden. Wir könnten zum Angeln Bücher mitnehmen und darin lesen. (140)

Diego empfiehlt, nicht mehr nach Wien zurückzufliegen, doch Elias zweifelt. Als Tourist fühlt man sich hier wohl, aber in der Fremde zu leben, das muss schwer sein. (102)

Und dann kommt es zur überraschendsten Hochzeit der Literaturgeschichte. Elias betrachtet vom Bett aus das Hochzeitskleid, das am Schrank hängt. Es wurde gestern von Raquel getragen, als sie beide geheiratet haben. Heute haben sie frei, und die Buchhandlung wird aushilfsweise von Hochzeitsfreunden geführt.

Es ist alles so leicht. Als die Braut einmal kurz verschwunden ist, ruft er sie am Handy an – und siehe, der Klingelton kommt in voller Nähe aus dem Eck. Man ist sich nahe, auch wenn man sich nicht sieht.

Keine Hochzeit ohne Eintrübung. Diego muss ins Krankenhaus und es scheint schlecht um ihn zu stehen. Gerade als man sich auf Traurigkeit einstellt, geht es ihm wieder besser und er macht der Brautmutter einen spontanen Heiratsantrag.

Stanislav Struhar erzählt mit schlafwandlerischer Genauigkeit von der Flüchtigkeit des Glücks oder dem Gewicht des Schattens, was aufs Gleiche hinauskommt. Die Bilder sind fürs Erste leicht und luzid, aber sobald sie in den Helden absacken, verdichten sie sich zu rätselhafter Melancholie. 

Als man als Leser denkt, hier wird wohl ironisch über die Helden hergefallen, erschrickt man, weil es ernst ist mit dem Leben, obwohl es so einfach erscheint. 

Man fährt an den Atlantik, übernimmt die Geschichte der Großeltern, verliebt sich, heiratet und findet sich in einer Buchhandlung wieder, worin die Welt ausgestellt ist. Oder einfacher: Man findet sich mitten im Roman vom Gewicht des Schattens wieder und steht mitten im Leben.

Stanislav Struhar: Das Gewicht des Schattens. Roman. Mit einem Nachwort von Kristina Kallert. Klagenfurt: Wieser 2023. 204 Seiten. EUR 21,-. ISBN 978-3-99029-573-1.
Stanislav Struhar, geb. 1964 in Gottwaldov (Zlín), lebt in Wien.
Kristina Kallert, geb. 1962 in Weißenburg, unterrichtet an der Universität Regensburg.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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