Helmuth Schönauer bespricht:
Martin Kolozs
Auch Kannibalen essen mit Besteck.
Oder:
Wie der Schriftteller Joseph Roth
den Fall des Fleischhauers
Eduard Trautmann aufklärte.
Ein Bericht
Martin Kolozs gilt mittlerweile als Fachmann für biographische Lebensspitzen. Nach seiner Theorie zeigt sich das Besondere eines Lebens nicht nur in den großen Taten und Ideen, die jemanden vielleicht bekannt gemacht haben, sondern vor allem in der Trivialität, mit der der Alltag beinahe unbemerkt vom Helden durchpflügt werden muss.
Der Kaiser-Melancholiker Joseph Roth ist in der Literaturgeschichte längst episch untersucht. Das Werk über ihn ist mindestens so groß wie das von ihm selbst, zumal er ja in den Sektoren Geschichtsroman und Journalismus als eine Einmaligkeit gilt. Über diesen Autor noch etwas zu schreiben, hat nur einen Sinn, wenn man durch ein frisch geschlagenes Fenster in seine Welt hineinblickt.
Martin Kolozs wählt den Account eines gereiften Lesers, um diesem einen kleinen Bericht über Joseph Roth, den Journalismus, die Justiz, die Zwischenkriegszeit und generell über das Abenteuer der Lektüre aufzuspielen.
Ganz im Sinn klassischen Erzählens verbraucht die Lektüre die Zeit eines brachliegenden Abends, der mit einer unerhörten Begebenheit lustvoll verbracht werden kann. Der Bericht ist ordnungsgemäß in eine Rahmenhandlung eingebettet, in der zu Beginn der Herausgeber Ort und Zeit einer kriminaltechnischen Nachuntersuchung eines Justizirrtums vorstellt. Am Schluss erzählt der Herausgeber, wie der Fall abermals Wirbel geschlagen hat, aber schließlich wie alle Literatur gesittet im Archiv verschwunden ist.
Wir Leser dieses einen Abends haben also die Chance, einen Kriminalfall kurz dem Vergessen zu entreißen, jäh mitzufiebern im Schmerz, der einem unschuldig Verurteilten zugefügt worden ist, um am Schluss festzustellen, dass der Fall jetzt wieder heruntergefahren im Regal verschwinden kann, so wie es einst mit unserem Leben geschehen wird, wenn es gut ausgelöscht in irgend einem Archiv künstlicher Intelligenz verschimmeln wird bis zum Armageddon der kompletten Datenvernichtung.
In der sogenannten Kern-Story wird Joseph Roth als Ich-Erzähler von einem auf Bewährung freigelassenen Mörder in eine Kleinstadt in der Nähe des schlesischen Breslau eingeladen, sich als Journalist den Fall anzusehen und eine Wiedergutmachung zu bewirken. Denn der Verurteilte sei unschuldig.
Wir erleben die Recherche aus der Ich-Perspektive, die keine Gewähr für Objektivität gibt. Tatsächlich besucht der Erzähler den Fleischhacker Eduard Trautmann, der sein Leben an der Peripherie mit Korbflechten verbringt.
Roth lässt sich die Unterlagen zeigen und verspricht, mit den involvierten Justizpersonen Kontakt aufzunehmen. Offensichtlich ist Trautmann wegen Ermordung und Zerstückelung einer Frau verurteilt worden, weil die Leiche fachmännisch zerlegt worden ist wie von einem Metzger. Es könnte also eine Art Sippenhaftung eines Berufsstandes vorliegen.
In der Folge müssen die Termine mit dem Landrat und den Kriminalleuten verschoben werden, weil das erzählende Ich zu viel ins Glas geschaut hat. Hier ist große Erzählkunst gefragt, um das Roth´sche Bewusstsein zwischen trinken und darüber reflektieren in Balance zu halten. Für die Justiz und ihr Fehlurteil hingegen passt alles: Trautmann ist schuldig wie die Sünde selbst. (42)
Recherchen ermöglichen es, ins Milieu von trinkenden Außenseitern vorzudringen, was die journalistische Seele gerne annimmt. Bei dieser Gelegenheit zeigen sich oft zwielichtige Helfer, die sich unter die Prostituierten und Landstreicher mischen, um sich ihre beratenden Dienste sexuell abgelten zu lassen. Bemerkenswert ist der Begriff Rentnermark: diese soll die Inflation zumindest durch Wording bekämpfen.
Jemand aus der Szene könnte der wahre Täter sein, nimmt der Erzähler einmal als Hypothese an, und erklärt seine Suche nach jemandem, der unauffällig sein Handwerk ausübt. Wir suchen also einen Kannibalen, der mit dem Besteck isst und unauffällig bleibt. (78)
Als in Berlin ein Serienmörder auftritt, der ähnlich vorgeht, wie es Trautmann zugeschrieben worden ist, riskiert der erzählende Roth einen Bericht für die Zeitung, dass vielleicht bei Trautmann ein Fehlurteil vorliege.
Aber es ist nur ein Bauchgefühl, muss der Journalist Roth zugeben, als er den Text dem Chefredakteur zeigt. Wenn die Justiz einmal alles richtig gemacht und ein Urteil gefällt hat, muss sich jedes Gefühl dem Richterspruch beugen.
Roth nimmt seine Frau mit auf einen Weihnachtsausflug hinter Breslau und gibt Trautmann die Papiere zurück. Er hat nichts tun können.
Erst später wird der Fall von Amtswegen neu aufgerollt, und mit gutem Ende dem Archiv zugeführt. Juristisch ist jetzt alles in Ordnung, die Beteiligten sind längst verstorben, der Akt ist erledigt unter seiner Staubschicht.
Als Leser schließt man die Lektüre dieses kleinen Berichts, der alles hat, was man für einen nachdenklichen Abend gebrauchen kann. Einen Plot wie aus der Zeitung, einen großen Akteur aus der Literaturgeschichte unterwegs in kleiner Versager-Mission, einen raffinierten Erzähler Martin Kolozs, der sich so elegant zurückhält, dass man wie im Märchen mit den Fingerspitzen am Relief-Cover tasten muss, um seinen Namen zu erfahren. – Es sind letztlich die Gefühle, die einen Fall lesbar machen.
Martin Kolozs: Auch Kannibalen essen mit Besteck. Oder Wie der Schriftteller Joseph Roth den Fall des Fleischhauers Eduard Trautmann aufklärte. Ein Bericht.
Wien: Text/Rahmen 2023. 104 Seiten. EUR 18,-. ISBN 978-3-903365-14-8.
Martin Kolozs, geb. 1978 in Graz, aufgewachsen in Innsbruck, lebt in Wien.
Joseph Roth, geb.1894 in Brody, starb 1939 in Paris.
Wenn Ihnen schoepfblog gefällt, bitten wir Sie, sich wöchentlich den schoepfblog-newsletter zukommen zu lassen, und Freundinnen und Freunde mit dem Hinweis auf einen Artikel Ihres Interesses zu animieren, es ebenso zu tun.
Weitere Möglichkeiten schoepfblog zu unterstützen finden Sie über diesen Link: schoepfblog unterstützen