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Helmuth Schönauer
Samstags in der Unterwelt
Stichpunkt

1.
Als rund um die Jahrtausendwende die Dörfer dazu aufgerufen wurden, eine „Dorfverschönerungsaktion“ zu machen, um die neue Zeit mit neuem öffentlichen Mobiliar zu begrüßen, gab es nicht wenige, die auf den Dorfkern pfiffen und alle Förderungen in den Recyclinghof steckten.

Seither sind an der tiefsten geographischen Stelle einer Gemeinde sogenannte Glückskathedralen installiert, aus den ehemaligen Bauhöfen sind überdachte Hallen geworden, worin die einzelnen Entsorgungs-Container aufgestellt sind, wie früher Beichtstühle im Dom.

Während die Abwässer sachte geklärt in die nächst-tiefer gelegene Gemeinde abfließen, spielt sich Samstag für Samstag das Dorfleben im Zirkuszelt für Verwertungsstücke ab.

Der Samstagvormittag ist vor allem für Rentner ein Pflichttermin am Bauhof, wenn sie das aufgestaute Material des ganzen Clans mit dem Einachser anliefern. Das Recycling wird dabei theatralisch inszeniert vom Einparken bis hin zur Abfahrt mit dem leeren Hänger.

Auf der nonverbalen Ebene wirft jeder, so gut er kann, seine Dinge in die Boxen. Dabei ist die Erleichterung umso größer, je schwerer die entsorgten Dinge sind. Selten verhält sich das physikalische Gewicht so direkt proportional zur psychischen Erleichterung, wie hier beim Entsorgen.

Je erleichterter die Gemüter sind, umso mehr reden sie auch miteinander. Wenn es ein Dorfleben kommunikativ wie in einem Wimmelbuch gibt, dann hier an der Datumsgrenze des Verfalls, wo die banal abgelaufenen Dinge nach Gebrauch der irdischen Ewigkeit zugeführt werden.

Auch die Verabschiedungszeremonien haben sich verändert: Was man früher einfach auf einen Haufen gelegt und angezündet hat, wird heutzutage nach dem Festakt am Bauhof quer durch das Land gekarrt und in einem Spezialkrematorium für Konsumgüter zu Staub veredelt.

Kaum sind die Dinge des wöchentlichen Wegwurfs geregelt, kommt es zu euphorischen Telefonaten. Eine Sache gilt bekanntermaßen erst dann als erledigt, wenn die wahren Auftraggeberinnen in Echtzeit zu Hause von der Erledigung der Arbeit verständigt sind.

2.
In dieser Phase gelingen auch philosophische Ausschweifungen, wenn jemand am Handy über die entsorgten Dinge nachdenkt, welche sein Phone-Gegenüber noch nie gesehen hat.

Interessanterweise ruft jeder jemanden an, nachdem er seine Dachziegel, Festplatten und zerspargelte Kleinwindräder entsorgt hat. Erstaunlich viel Abfall für die Ökowende fällt an, weshalb nur heitere Gespräche stattfinden.
Jeder erzählt, wovon er sich gerade getrennt hat, der Umfang der Hinterlassenschaften wirkt sich auf die Gesprächslänge aus.

Im Idealfall erzählt ein Rentner aus Völs am Telefon einem solchen in Roppen, was er gerade wegwirft. Beide überbieten einander mit Ausrufen der Verzückung, wenn sie die einzelnen Stoffe ins Handy plärren: Bauziegel! Rest-Paneele! Asbeststutzen! Plastikroller des Enkelkindes!

3.
Diese heitere Unterwelt vom Recyclinghof ist natürlich schon längst in der Weltliteratur behandelt. Der mäandernde Müll-Roman schlechthin handelt in der amerikanischen Postmoderne von der Entsorgung der Geschichte durch Wegwurf ihrer Fetische. Diese ziehen sich als magische Unterwelt quer über den Globus.

Unterwelt von Don DeLillo wird bei seinem Erscheinen1997 in der Hauptsache religiös gelesen. Oben spielt sich die Moderne als sichtbare Geschichte ab, unten die Postmoderne mit ihren mannigfaltigen Referenzen und Redundanzen.

Natürlich schwebt über allen Müll-Romanen der biblische Spruch Alles Fleisch wird Gras.

Dabei inszeniert Don DeLillo die Unterwelt als Spiel, indem er die Geschichte Amerikas anhand von oberirdischen Fetischen und Gebrauchsgegenständen erzählt, die gerade weggeworfen sind. Eine Künstlerin restauriert einen B-52-Bomber, der Kalte Krieg zeigt sich als zerschmolzene Metallstücke, die Geschichte des Aufbaus ist vor allem eine Geschichte vom Zerfall entsorgter Dinge.

Aber auch aufgelassene Landschaften und Gebäude lösen einen vermüllten Bewusstseinsstrom aus, durch den man durchfährt und sich assoziativ gehen lässt.

Die Unterwelt zeigt sich letztlich dreifach:
a) als Geschichte der vergrabenen Dinge
b) als Sprache im sozialen Untergrund
c) und als Myzel des Widerstands gegen den Zeitgeist.

4.
Davon grob abgeleitet erzählt der aktuelle Tiroler Recyclinghof die Geschichte des Dorfes im Sinne des Unterwelt-Romans mindestens zweimal. Einmal als Erinnerungs-Scan durch die weggeworfenen Dinge, und zweitens durch die Konnotationen, die dabei entstehen. Dieser Vorgang wird meist als heftiges Erinnern und Gedenken empfunden.

Eine besonders heftige Form des Gedenkens liefert der Recyclinghof in Innsbruck.
Seine Erinnerungskultur fängt ja schon damit an, dass nur jene auf dem Recyclinghof sind, die die passende Erlaubnis zum Wegwerfen haben.
So dürfen nur Fahrzeuge mit der Stadt-Nummer „I“ die heiligen Recycling-Boxen ansteuern.

In Innsbruck ist die Erinnerungskultur am Bauhof zusätzlich abgesichert durch ein Denkmal, das auf das ehemalige KZ-Lager Reichenau hinweist. Seit 1972 erinnert am ehemaligen Grundstück ein Gedenkstein an die Opfer des Lagers Reichenau. Er trägt die Inschrift:

HIER STAND IN DEN JAHREN 1941–1945
DAS GESTAPO-AUFFANGLAGER REICHENAU,
IN DEM PATRIOTEN AUS ALLEN VOM NATIONAL-
SOZIALISMUS BESETZTEN LÄNDERN INHAF-
TIERT UND GEFOLTERT WURDEN.
VIELE VON IHNEN FANDEN HIER DEN TOD.

Dieser Gedenkstein wird seit Jahrzehnten nur notdürftig freigeschnitten, damit ihn nicht jedermann sieht. Denn dieser Gedenkstein hat eine doppelte Funktion: zum einen erinnert er seit einem halben Jahrhundert an das Auffanglager der Gestapo, zum anderen aber erinnert er beim jährlichen Sträucherschnitt daran, wie die Innsbrucker ticken: Sie wollen im Einklang mit der Natur vergessen, wo immer es geht.

Ich durfte 1972 als Maturant bei der Eröffnung des Steins dabei sein, für mich ist dieses Denkmal seither eines, das nur für mich geschaffen ist. Wann immer ich etwas recyclen muss, gehe ich zuerst zum Stein, wische die Zweige beiseite und erinnere mich an mein Maturaversprechen, als reifer Mensch nie etwas zu vergessen.

Jetzt will man das Denkmal verlegen und so aufstellen, dass man ein Selfie damit machen kann. Ich bin dagegen, denn ich vergesse immer alles, wenn ich ein Selfie sehe.

Literatur:
Don DeLilo: Unterwelt. Roman. A. d. Amerikan. von Frank Heibert. [Orig.: Underworld, NYC 1997]. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1998. 1088 Seiten.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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