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Helmuth Schönauer bespricht:
Line Baugstø
Wenn wir doch nur Löwen wären.
Jugendroman

Ein normaler Mensch interessiert sich meist erst dann für Literatur, wenn sie verboten ist. Ein Verbot kann dann allerdings den Eintritt in eine unbekannte Welt bedeuten. Die Jugendliteratur ist so eine unbekannte Welt, in der meist nicht einmal die Jugend zu Hause ist, obwohl sie im Genre dezidiert angesprochen ist.

Aus europäischer Sicht fallen einem zwei Stützsätze zur Jugendliteratur ein: In den Skandinavischen Ländern wird sie gepflegt wie eine Verfassung, in Ungarn wird sie verboten, sobald ein Gendersternchen darin auftaucht. Zwischen diesen beiden Extremen bewegen sich die österreichischen Leser, wenn sie sich einem skandinavischen Jugendbuch zuwenden.

Line Baugstø greift in ihrem Roman „Wenn wir doch nur Löwen wären“ das Thema „queer trans Sternchen“ auf. Auf der letzten Seite ist ein OR-Code abgedruckt, mit dem man sich über besagte Begriffe informieren soll, wenn man noch nicht ganz sicher ist, welches Geschlecht man als Leser hat. Denn das ist schon die erste Aussage des Romans: Nichts ist so, wie es scheint. Sinnbild für diese Diffusität ist ein sogenannter „Umziehsack“, in den die Heldin immer schlüpft, wenn sie beim Schwimmen und Turnen die Kleidung wechselt.

„Die Heldin“ ist natürlich schon die erste Falle, in die Rezensenten und Leser geschickt werden. Vielleicht sollte man in der Manier der Autorin „Sternchen“ sagen, wenn man Heldin meint. Womöglich muss man auch zur Autorin „Sternchen“ sagen, aber da steht nichts Auffälliges im Klappentext. Sie habe anerkannte Frauenporträts der 1960er bis 1980er Jahre geschrieben und betrachte den Jugendroman, wie in Skandinavien üblich, als echte Literatur, heißt es sinngemäß.

Der Roman handelt von der mühsamen Integration der Schülerin Leona in die Klasse der Ich-Erzählerin Malin. Die Zugezogene kommt aus Nordnorwegen, wo alles anders zu sein scheint, zumindest vermittelt das Mädchen einen magischen Touch, wenn sie von verlorengegangenen Bildern, rätselhafter Natur und komischen Umgangsformen der Bewohner berichtet. Dabei lässt sie sich jeden Satz aus der Nase ziehen, was allmählich das Interesse an ihr schwinden lässt.

Einzig die Erzählerin bleibt an ihr dran, weil beide so nebenher entdeckt haben, dass sie Schriftstellerinnen werden wollen. „Willst du meine Freundin werden?“ ist etwa ebenso unverblümt gefragt wie der berühmte Erweckungssatz „Willst du Schriftstellerin werden?“ Merke: Freundin und Schriftstellerin wird man qua Selbst-Entscheid und nicht durch das Urteil anderer.

Als sich alle mit dem Status quo notdürftigster Integration abgefunden haben, kommt es in der Umkleidekabine zu einem Eklat. Ein Mädchen reißt Leona das Umkleidetuch von den Schultern, und anstatt nach Mädchenart die Brüste im Schock zu bedecken, schützt die Verblüffte ihren Pimmel. – Jetzt ist alles klar, weil absolut nichts klar ist.

Der pädagogische Tross der Schule greift das Thema auf und setzt ein paar Schulungsstunden an, wie man mit Sternchen umgeht, wie man medizinische Maßnahmen setzt, wie man sich als Unbeteiligte verhalten soll, wie die Rechtslage ist.

Leona ist in der Zwischenzeit abgetaucht und in einem Schockzustand. Malin besucht sie zu Hause und lässt sich von Nordnorwegen erzählen. Im Prinzip geht es dort gleich zu wie im Süden, aber durch die andere Geschlechtsposition wird das Leben ein völlig anderes. Im Norden hat Leona übrigens als Junge Elias geheißen. (122) Den aktuellen Namen hat sie gewählt, weil sie geahnt hat, dass sie wie eine Löwin wird kämpfen müssen.

Malin schreibt einen langen Brief, in dem alles erklärt wird, was für eine neue Identitätsfindung notwendig ist. Und siehe, es wird sogar das erste Buch daraus, das letztlich die Löwin mitgeschrieben hat, indem sie ihren Fall zur Verfügung gestellt hat.

Line Baugstø erzählt mit jener Coolness, die wir von skandinavischen Schriftstellerinnen erwarten. Mit der gleichen Härte, mit der üblicherweise Krimis erzählt werden, tritt hier die Geschlechtsdiffusität als Fall auf.

Neben der Information, die dem Plot entspringt, sind es vor allem die Gesprächsinteraktionen, die ein Modell zeigen, wie man in heiklen Lagen mit Jugendlichen reden könnte.

Die Sache mit dem Aufklärungsroman dürfte in Skandinavien funktionieren, weil dort schon jahrzehntelang Vorarbeiten geleistet worden sind. In Österreich spielen diese Romane in einem luftleeren Raum, es gibt kaum einen Diskurs zwischen der fiktionalen Welt der Erörterung und dem faktenrelevanten pädagogischen Alltag.

Die Auseinandersetzung mit Gegenwartsliteratur wird am ehesten noch an den diversen pädagogischen Instituten geführt. In letzter Zeit wurden eine Menge literarischer Master-Themen vergeben, wobei jeweils sogenannte Stundenbilder und Themen-Curricula entwickelt werden. Pädagogisch ungeschulte Leser erfahren über diesen Umweg wenigstens, welche Themen an den Schulen abgehandelt werden und wie das kommende Personal ticken wird, wenn es in die Praxis überstellt wird.

Wenn sich nämlich niemand um die Jugendliteratur kümmert, endet es im ungarischen Modell: Du wirst angezeigt, wenn du was mit einem Sternchen liest.

Line Baugstø: Wenn wir doch nur Löwen wären. Jugendroman. A. d. Norweg. von Andreas Donat. [Orig.: Vi skulle vaert lejon, Oslo 2018].
Wien: Luftschacht 2022. 144 Seiten. EUR 24,-. ISBN 978-3-903422-04-9.
Line Baugstø, geb. 1961 in Kristiansand, lebt in Kristiansand.
Andreas Donat, geb. 1983 in Wien, lebt in Berlin.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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