Alois Schöpf
to be a man
Zum Fotoband des Fotografen und Regisseurs
Erich Hörtnagl
Erich Hörtnagl beginnt das Panorama seines Fotobandes mit drei Bildern. Es sind die einzigen, auf denen er mit Farbe arbeitet. Und zwar mit Rot, der Farbe des Blutes, der Liebe, aber auch des Krieges, der Farbe der Kraft, des Feuers, der Leidenschaft. Rot steht für Warnung und Anhalten, zugleich aber auch für Anziehung, für Fruchtbarkeit und die Pracht vor allem religiöser Macht.
Das erste Bild zeigt einen grimmigen Kickboxer, eine Sportart, bei der mit Händen und Füßen gekämpft wird und lediglich Schläge in den Unterleib, auf den Rücken und auf den bereits am Boden liegenden Gegner verboten sind. Der bärtige, mit einem finsteren Blick die Situation abschätzende und doch noch an einen Rest von Regeln gebundene Kämpfer umwickelt gerade eine seiner Hände zum Schutz mit einer Bandage: Wickelt er die Bandage auf, weil der Kampf beginnt? Oder wickelt er sie ab, weil der Kampf bereits beendet ist?
Nur die Bandage ist rot gefärbt und präsentiert sich dem Betrachter als blutige Nabelschnur, Zeichen des sich stets erneuernden Lebens. Oder als Symbol für Gewalt, einer Geschichte des ewigen Kampfes und Mordens? Wird hier ein blutgetränktes Gebinde gezeigt oder die Stola eines Priesters, welche die Ermächtigung durch die Kirche und die Beauftragung durch die Gemeinde der Gläubigen zu erweisen hat.
Das zweite Bild zeigt die Fassade eines Wohnhauses innerhalb eines größeren Klosterkomplexes in Tonga in Bhutan. Davor ein buddhistischer Mönch in prächtigem, rotem Gewand wie auch die roten hölzernen Stockwerke des auf weißem Gemäuer ruhenden Hauses. Und es zeigt vor allem, erstaunlich angesichts eines auf die Verhinderung seiner Wiedergeburt hinarbeitenden Priesters, auf die Hauswand gemalt und mit Girlanden geschmückt, einen erigierten Penis mit Hoden, Fruchtbarkeit signalisierend.
Wie Bhutan ja überhaupt im Arsenal westlicher Klischees über fremde Länder mit seinen 750.000 Einwohnern als ein Paradies gilt, das sich als konstitutionelle Monarchie der buddhistischen Tugend des Nicht-Anhaftens verschrieben hat und die Zufriedenheit seiner Bewohner mit einer Art Bruttonationalglück von einem Glücksminister überwachen lässt. Neben einer nachhaltigen und gerechten Entwicklung von Gesellschaft wird vor allem die Bewahrung kultureller Traditionen hochgehalten. Womit sich für den Betrachter die Frage stellt, ob er als Zeitgenosse tatsächlich damit zufrieden wäre, in einen touristisch zwar hochinteressanten, im Hinblick auf seine eigene Lebensführung, wenn auch nur geistig, unendlich fernen Gottesstaat zurückzukehren? Bestätigung findet solch westliche Skepsis durch eine sehr nüchterne Zahl, den Index für menschliche Entwicklung der UNO, die Bhutan mit 0,666 von 156 Ländern an die 109. Stelle zwischen Indien und Südafrika reiht.
Das dritte Bild, mit dem Erich Hörtnagl seinen Fotoband eröffnet, zeigt vergleichbar dem Motiv an der Hauswand von Tonga in Bhutan, ein männliches Geschlechtsteil, in diesem Fall jedoch nicht als selbst von den Vertretern der Religion hofiertes Symbol der Fruchtbarkeit, sondern als im Untergrund und in der Nacht auf Beton rasch hingeschmierte Graffiti-Obszönität. Als sei all das, was das erste Bild an männlicher Kraft darstellt und das zweite Bild zum Symbol von Lebensfreude und Sexualität emporhebt, hier ins Abseits gerückt worden, in das, was nicht mehr offiziell ist und sein darf, in das, was nur noch an verbotenen Orten, in verwahrlosten Fußgängerunterführungen, auf Toiletten oder an den Säulen von Stadtautobahnen als letzter Rest abendländischer Männlichkeit übrig geblieben ist.
Als seien der Mann, seine Sexualität, sein Begehren, seine Gier, seine stolzen Erektionen nur noch patriarchale Modelle der Unterdrückung oder bestenfalls eine von Medikamenten gestützte Endzeiterregung und nostalgischer Rückblick auf die wilden Jahre einer Vergangenheit, die hinter sich gelassen zu haben der Mensch der Postmoderne sich glücklich zu schätzen hat.
Mit diesen drei Motiven umgrenzt der Künstler das Themenfeld, innerhalb dessen er der Frage nachgeht, was es dereinst bedeutet hat, ein Mann zu sein. Und wie zeitgemäß sich die vielfältigen Versuche der Gegenwart erweisen, mit den penetranten, penetrierenden und genetisch codierten Befehlen der Natur umzugehen, den Samen zu streuen, kulturell verdeckt oder unverhohlen möglichst viele Frauen zu begatten und dieses Ziel mit Gewalt, Klugheit, Schlauheit, mit Verlogenheit, Charme, Kunst und Reichtum besser als die Konkurrenz aller anderen Männer durchzusetzen.
Engel, Teufel, Schauspieler, Tänzer und Akrobaten, Clowns und Ringelspielbetreiber, Bettler, in sich zusammengesunkene Alte, der Bräutigam, die Schaufensterpuppe, der Galan versus Gatte, Stammtischbrüder und schwule Liebespaare, verliebte Heteros und Priester, nicht zu vergessen Krieger und ihre trachtengeschmückten Imitate bis hin, vor allem, zum Sportler, der sich, einem Bildhauer gleich, radikal seinen Vorstellungen gemäß zur Statue seiner selbst formatiert: die traditionellen Rollen, die sich aus einer musealen Vergangenheit bis ins Heute herüber gerettet haben, um mit dem Schicksal des eigenen Mann-Seins fertig zu werden, wirken wie eine nicht enden wollende Zimmerflucht von aus- und abgelebten Klischees.
Erich Hörtnagls Fotoband ist der melancholische Rückblick auf all jene Rollen, in deren Verkleidung es einmal möglich war, darin sein Mann-Sein zu verwirklichen. Zugleich versucht der Künstler nach einer reich instrumentierten Ouvertüre die vorsichtige Annäherung an eine Gegenwart, in der die traditionellen Rollen von Mann und Frau durch den wissenschaftlichen und hier vor allem medizinischen Fortschritt radikal ihrer Grundlagen beraubt wurden.
Wenn man bedenkt, dass etwa im vergleichsweise hochzivilisierten Römischen Reich an der Geburt ihrer Kinder mehr Frauen starben als Männer in einem durch und durch militarisierten Eroberungsstaat; wenn man bedenkt, dass die meisten Geschlechtskranken heute geheilt werden können; gegen Gebärmutterhalskrebs eine Impfung möglich ist; durch pränatale Diagnostik die Geburt schwer behinderter Kinder verhindert werden kann; durch In-vitro-Befruchtung in vielen Fällen Unfruchtbarkeit geheilt werden kann; durch das Wissen um die Mechanik der Fortpflanzung die Folgen des Geschlechtsverkehrs nicht mehr dem Zufall, der Natur, sondern der Entscheidung der daran Beteiligten überlassen bleiben; wenn man all dies bedenkt, leuchtet es ein, dass der Gesellschaftsvertrag zwischen den Geschlechtern neu verhandelt werden muss und dass Mann-Sein von gestern niemals mehr dass Mann-Sein von heute sein kann.
Wenn noch vor wenigen Jahren der Grundsatz galt: Mann beschützt Frau und Kinder vor Gewalt, Mann zieht in den Krieg und müht sich als Arbeiter zuerst auf den Feldern, dann in den Fabriken ab, damit Frau und Kinder nicht verhungern, dafür steht Frau ihm als Objekt des Begehrens, wenn er von Arbeit oder Krieg nach Hause zurückkehrt, zur Verfügung – so heißt es heute: Nach einem halben Jahrhundert europäischen Friedens, dessen momentane Trübung im Osten wohl kaum die globale Entwicklung aufhalten wird, wurde Mann vom kriegerischen Teil des Gesellschaftsvertrages entbunden.
In gleicher Weise wurde er in einer Zeit, in der zunehmend beide Geschlechter berufstätig sind, von der Notwendigkeit befreit, hauptverantwortlich für das wirtschaftliche Überleben zu sein. Frau hingegen stirbt nur noch in seltensten Fällen an der Geburt ihres Kindes und ist nunmehr stolz legitimierte Herrin über den eigenen Körper, der durch die Erfindung der Pille, aber auch durch die Möglichkeiten einer legalen Abtreibung von den schicksalshaften Bedingungen des naturgegebenen Geschlechts befreit wurde.
Und Frau nützt die Chance, sich endlich zu verwirklichen, was in plötzlicher Gegnerschaft zum Mann, dem neuen Konkurrenten, dessen Opfer Frau nun seit Jahrtausenden zu sein behauptet, um daraus in der neuen Phase der Neuverhandlung des Geschlechtervertrags Vorteile zu lukrieren, oft nur noch bedeutet: Frau ist ein Mann!
Das Mann-Sein wurde so wie das Frau-Sein in einem neuen Jahrtausend, das die Natur-Grundlagen unseres Daseins durch Genetik und Medizin in Kultur-Grundlagen verwandelt hat, zu einem frei wählbaren Rollenspiel, das mit Rückgriff auf den Fundus der Vergangenheit als Zitat musealer Nostalgie aufgeführt wird und vor dem Hintergrund der allgewaltigen Pflicht zur Selbstverwirklichung niemals mehr authentisch ist, sondern lediglich eine Kammer-Oper des Verliebt-Seins, eine Grand Opéra der Leidenschaft, ein an den Parametern der ästhetisch hochwertigen Pornographie geschultes Sex-Ballett, verschiedene, an die Tages- und Jahreszeiten angepasste Genres, die von den Involvierten emotionale Intensität und technische Höchstleistung einfordert. Aber eben nur als Schauspieler und Schauspielerinnen, hinter deren Masken die hysterische, lebensgierige und kleine Selbstverwirklichung übrig bleiben.
Das Spiel der Geschlechter wurde zu einem gigantischen Pornoladen, der von den altväterischen Freuden des masturbierenden Hagestolzes bis hin zu den von Ängsten vor einer Geschlechtskrankheit überschatteten Massenorgien wie eine Speisekarte alle nur denkbaren Möglichkeiten, ein Mann zu sein, anbietet.
Entsprechend werden Hörtnagls Typen und Modelle, die er in den Blick nimmt, ab der Mitte des Buches immer bizarrer, exaltierter, gestylter, als wäre es nun höchste Zeit, aus dem Zwang der Schwarzweißfotografie und des Abgelebten in die Farbe auszubrechen.
Ach, wenn da nicht jene bittere Botschaft wäre, die das farbige Triptychon von Beginn an bereithält: die immer noch aktuelle Gefahr, den Lebenskampf, in welch neuer Form auch immer, aufnehmen zu müssen. Und dabei mit den Vorgaben der eigenen, genetisch codierten Natur und hier insbesondere der eigenen Sexualität fertig zu werden. Und zuletzt zwischen der Verlockungen, Probleme mit egoistischer Taktik zu lösen, und aus der Not, auf die Liebe anderer angewiesen zu sein, einen mittels zivilisierender Kultur neuen und fairen Ehe- bzw. Beziehungs- bzw. Geschlechtervertrag einzugehen.
Die Freiheit der Wahl ist existentiell begrenzt. Und die Abgrenzung zur Tradition, den Kompromissen der Vergangenheit, niemals so problemlos wie sie in der Theorie erträumt wird.
Den Fotografien, die Hörtnagl als Lebensmöglichkeiten, vom mit Tattoos geschmückten Aussteiger mit seinem PS-starken Motorrad bis hin zum blindlings seiner Braut nacheilenden Lebenspilger, haftet in ihrer Vergeblichkeit stets etwas rührend Trauriges und Hilfloses an.
Das rätselhafte Titelbild des Buches erlaubt einen Blick auf die zentralen Rollen abendländischer Männlichkeit, wie der Fotograf sie in einer Abstellkammer des Dogenpalastes in Venedig vorgefunden hat: der für die Menschheit leidende Christus, rechts davon der geharnischte Krieger, beide inmitten von entsorgten Kopierapparaten, Safes und Paravants.
Dort, wo die Welt, auch in der Fotografie, wieder farbig werden müsste, wo die enigmatische Schwarz/weiß-Serie des Künstlers ein Ende finden könnte, sind wir noch lange nicht angekommen. Dort müssen wir noch auf einen nächsten Fotoband warten, in dem sich erst zeigen wird, ob sich all das, was heute euphorisch unter LGBTQ als die freie Zukunft unserer Rollenspiele gefeiert wird, als die endgültige Befreiung von der gleichsam naturhistorischen Geschlechtlichkeit, als die neue und unendliche Utopie erweist, ganz nach Immanuel Kant, der das, was zu seiner Zeit noch ausschließlich der Ehe zugeteilt war, als die Verbindung zweier Personen verschiedenen Geschlechts zum lebenswierigen, wechselseitigen Besitz ihrer Geschlechtseigenschaften definierte.
Eine sehr altertümliche Beschreibung des Begehrens im Hinblick auf den Kosmos einer Star Wars Saga und die Hoffnung, in diesem Weltall nicht allein zu sein und darin eine intergalaktische Zukunft zu haben. Oder auch nur die traurige Beschreibung einer aus der Zeit gefallenen Geilheit, die auf Basis eines narzisstischen Keuschheitsgebots, sich von nichts beflecken zu lassen, in der Sehnsuchtslosigkeit enden muss.
Der vorliegende Text erschien als Nachwort des Fotobandes „to be a man“ von Erich Hörtnagl
Erich Hörtnagl: to be a man. Deutsche Ausgabe von Chiaro Scuro AB (Herausgeber), Alois Schöpf (Autor), Regina Hilber (Autor), Erich Hörtnagl (Fotograf). Herausgeber: Dr. Cantz’sche Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG; 1. Edition (15. Juni 2023). Sprache : Englisch, Deutsch. Ledereinband: 200 Seiten. ISBN-10: 396912140X. ISBN-13: 978-3969121405. Abmessungen: 25.7x 2.8 x 26.8 cm. Euro 39,10.
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