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Helmuth Schönauer bespricht:
Karl-Markus Gauß
Die Jahreszeiten der Ewigkeit
Journal



Das wahre Schreiben beginnt für Schriftsteller, die es ernst meinen, erst im Alter. Dort entsteht nämlich ein unverwechselbarer Ton und es müssen keine Geschichten mehr zugekauft oder erfunden werden.

Karl-Markus Gauß kommt ohne Plot aus, weil er sich dem gereiften Schreibfluss anvertraut, so dass er Erlebnis-logisch im Duktus eines Flaneurs durch jene Jahre kommt, die zu beschreiben er sich vorgenommen hat.

Zum sechzigsten Geburtstag wünscht er sich Lust und Kraft, fünf Jahre lang das Leben sowohl aus der Innenperspektive heraus als auch als Vorstufe einer individuellen Geschichtsschreibung zu denotieren. Jetzt mit 67 und eine Pandemie später legt er ein Buch vor, in dem Geschichte steht statt Corona. „Ich habe den Verlockungen widerstanden, an der gegenwärtigen Gegenwart mitzuschreiben. Denn um Mitschrift ist es mir nie gegangen, und die Geschichte hat kein Ende, ein Buch aber schon.“ (313)

Die fünf Jahre zwischen 2015 und 2019 werden mit der Kunstgattung „Buch“ bearbeitet, es gibt einen Anfang und ein Ende, einen Stillstand im Sinne einer Kreisbewegung und eine Dynamik, die letztlich aus einer ausgebremsten Zeitungschronik besteht.

„Die Jahreszeiten der Ewigkeit“, wie dieser zeitlose Zustand bezeichnet ist, hat fünf Hauptabschnitte, in denen die fünf Jahre einem Schwerpunktthema zugeschrieben sind. Dazwischen gibt es jeweils ein Intermezzo, das sich um das Handwerk des Lesens, Schreibens und Lebens kümmert. Es geht um die Sprache, Charakterkunde der Literaturproduzenten, Lesen und Schreiben als einsames Individuum und um Skizzen von Unterwegs.

Für die Verankerung des Angebots in seiner eigenen Lesegeschichte empfiehlt es sich, zuerst den Epilog zu lesen. Darin sind mustergültig alle Stränge des Erzählens zu einem Knoten verknüpft, mit dem man sich gleichermaßen in der Zeit orientieren kann, wie man auch aus ihr herausfällt, wenn man ihn vorschnell gut durchschlägt.

Der Ich-Erzähler steht auf einem Karpatenhügel und wird anhand einer restaurierten Kapelle in die aufgewühlte Welt der Ukraine eingeführt. Da beginnen plötzlich die Umstehenden auf ihre Handys zu starren und zu lachen, gerade wird nämlich das Ibiza-Video ausgestrahlt. Alle wissen, dass im fernen Österreich jetzt eine neue Epoche anbrechen wird.

Der Autor weiß, dass es ein besonderes Jahr werden wird, aber er ahnt noch nicht, was es für das Land und ihn selbst bedeuten wird. Für einen Augenblick laufen auf diesem ukrainischen Hügel Kapelle, Video, Geschichte, Zukunft und geographische Zufälligkeit zusammen und bilden jenen Klumpen Ewigkeit, der mit etwas Glück in ein Buch passt.

Nach diesem Epilog versteht man die Notizen, die tapfer als Tagebuch-Projekt entstanden sind, als jene Sprengkapseln, die hinterher die Tage noch einmal aus der Versenkung heraussprengen und neu ordnen.

Wir schützen die Minderheiten so innig, dass wir keine Mehrheit mehr haben, unsere Gesellschaft besteht aus lauter Minderheiten. / Eines Tages glauben wir selbst, was wir ständig erzählen. / Der Bürgermeister eines weggespülten norwegischen Dorfes ist froh, dass der Friedhof unversehrt geblieben ist, alles andere nämlich könne man ersetzen. / Beim modernen Begräbnis gibt es jede Menge Trost für Hinterbliebene, statt den Schmerz anzusprechen, der wegen des Verstorbenen entsteht, weil er ja ein Verlust ist. Wenn jemand zu Lebzeiten gut war, erzeugt er Schmerz beim Abgang. Diesen soll man nicht billig therapieren.

Diese Merksätze erweisen sich in ihrer scheinbaren Sprunghaftigkeit als Festnetz der Wahrhaftigkeit. Es ist nicht nur ein Bonmont, wenn man sagt, beim Schreiben kommen die richtigen Dinge zusammen. Die Jahre werden für die Vergangenheit tauglich gemacht, indem wesentliche Teile neu verknüpft und eingelagert werden als Steine eines Mosaiks, das dann vor allem einen Farbeindruck erzeugt, ehe man den Steinchen zu nahe tritt und den Zusammenhang verliert.

Unter dem Kapitel Heimatgefühl sind Ereignisse aus der Kindheit abgelegt, wie etwa die Erkenntnis, dass es zwei Typen von Kinogehern gibt. Die einen spielen als Kinder alles nach, was sie gesehen haben, die anderen brauchen etwas Zeit, um den Sprung von der einen Welt zurück in die andere zu schaffen.

Im globalisierten Nachrichtenbetrieb ist Geschwindigkeit das oberste Gebot. Eine Journalistin ist stolz auf einen Bericht aus dem Erdbebengebiet und verkündet die Errungenschaft, mit der Nachricht dem Tsunami vorausgeeilt zu sein. „Wir waren schneller als das Erdbeben.“ Der Umkehrschluss bietet sich an: die Nachricht ist das eigentliche Erdbeben.

Die ausgewählten Nachrichten erhalten eine neue Konsistenz, wenn sie aus dem Tagesgeschäft herausgeschält und dem Windkanal der Zeit ausgesetzt werden. Eine Fügung wie „an den Rollstuhl gefesselt“ erlangt plötzlich einen absurden Glanz, eine Behauptung eine andere Art der Vollendung, wenn es heißt, dass Flüchtlinge nur aufgenommen werden wollten, das Wellnessprogramm, das ihnen manche angedeihen lassen, hatten sie gar nicht im Auge.

Während die Regierung vor allem alles mit Wörtern beschleunigt, egal wie schnell es schon ist, breiten sich die Wörter als Regierungslyrik anders aus als im Hirn der Programmentwickler geplant.

Diesem unerwarteten Ausbruch der Pläne hinein in ein Katastrophenszenario unterliegt auch das schreibende Individuum. Obwohl der Autor mit sich selbst literarische Gesundenuntersuchungen durchführt, ertappt er sich, wie er plötzlich erfolgsgeil wird, wenn er am Podium sitzt, anders frühstückt, wenn er an den Rand der Frühstücks- und Hotelkultur fährt, und wie er zunehmend Fieber bekommt, wenn wieder eine Tour ansteht. Es wird Zeit, mit fünfundsechzig den Innendienst zu forcieren, heißt es einmal.

Ein wahrlich ungeplanter Bandscheibenvorfall zwingt zu einer fast medizinischen Art des Schreibens. Da Schlafen und Fernsehen im Schmerz unmöglich sind, bleibt nur das Schreiben in einer verrenkten Körperhaltung, die aber sinnigerweise zu besonders geraden Gedanken führt. „Die Vermeidung von Trostlosigkeit“ (263) erweist sich als Sinn des Lebens.

Um sich als Schreibender halbwegs einordnen zu können im „Literaturgeschäft“, bedarf es zwischendurch einer Marktbeobachtung. In dieses Segment fallen Äußerungen über Bücher, Zeitgenossen und Trends. An den Unis wird „distant reading“ betrieben, weil man es nicht wahrhaben will, dass man ohne Lesen heute durch die Uni kommt. Wenigstens in die Files hineinstarren sollte man noch, wenn man sie schon nicht liest.

Konrad Bayer erzeugt Kopfschütteln, wenn man nachliest, wie unverschämt dumm er seine Stücke als Post-Nazi-Klamauk aufgeführt hat. Auch Thomas Bernhard wird mit jedem Jahr provinzieller, seit er in seinem geistigen Lodenmantel abgetreten ist. Kleist als Pantomime ist so ungefähr das Witzigste, was man aufführen kann, bei den Salzburger Festspielen ist es aber ernst gemeint. Und dass er Gerold Foidl öfters in Salzburg gesehen, aber nie mit ihm geredet hat, bedauert der Autor mit jedem Jahr mehr, in dem der Osttiroler mit dem goldenen Haarkranz aus der Literaturgeschichte hinausgeweht wird.

„Autobiographisch schreiben. Ich bin nicht die Voraussetzung, sondern das Ergebnis meines Schreibens. Ich bilde mich nicht ab, sondern erschaffe mir ein Selbstbild. Mit dem ich nicht verwechselt werden möchte, aber mich selbst längst zu verwechseln begonnen habe.“ (196)

Die Jahreszeiten der Ewigkeit sind ein Journal, das dem Leser durchaus vertraut vorkommt, weil er diese Jahre ja selbst erlebt hat, dann aber entfaltet dieser Sound nichts anderes als Sinn: Es lohnt sich, mit sich selbst durch die Zeit zu flanieren! Und plötzlich kriegt die Geschichte so etwas wie Einklang, Fans sprechen von der Gauß’schen Melodie.

Karl-Markus Gauß: Die Jahreszeiten der Ewigkeit. Journal.
Wien: Zsolnay 2022. 312 Seiten. EUR 25,70. ISBN 978-3-552-07276-3.
Karl-Markus Gauß, geb. 1954 in Salzburg, lebt in Salzburg.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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