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Helmuth Schönauer bespricht:
J. J. Voskuil
Die Nachbarn
Roman
A. d. Niederl. von Gerd Busse
[Orig.: De buurman, Amsterdam 2012]

J. J. Voskuil ist in der Literaturgeschichte mit einem ungewöhnlichen Titel verankert: Das Büro. Darin altert ein Volkskundler vor den Augen der Leserschaft in seinem Büro für Wichtelmänner. Und nach tausenden Seiten, sieben Bänden und vier Jahrzehnten erzählter Zeit merkt der Leser, dass er im gleichen Maße mit gealtert ist.

Nach dem Tod des Autors 2008 sind bislang auf Deutsch zudem zwei sogenannte Trabanten-Romane erschienen. Im Roman Die Mutter von Nicolien versucht der Held, neben der Arbeit ein paar Streifen Familienchronik zu erforschen, bleibt aber unglücklich beim Thema seiner Schwiegermutter hängen. Die abschweifenden Recherchen und Erinnerungen karikieren letztlich seine wissenschaftliche Arbeit im Büro.

Im aktuell erschienenen Roman Die Nachbarn kommt dieses Erzählkonzept abermals zum Zuge, dieses Mal geht es freilich um das Altern und das Verlöschen des Lebenskonzeptes Ehe. Herausgefordert wird die Ehe des Erzählers Maarten und seiner Frau Nicolien durch das schwule Paar Peer und Petrus, das als Horror einer Nachbarschaftsbeziehung an den Ehe-Alltag andockt.

Dem Roman liegen offensichtlich konkrete Nachbarn zugrunde, denn die Witwe des Autors wartete mit der Edition, bis die beteiligten Nachbarpersonen gestorben waren, und gab den Roman erst 2011, drei Jahre nach dem Tod ihres Mannes, heraus.

Die Nachbarn kommen mit vier Personen aus, die sich jedoch so heftig auf die Nerven gehen, dass eine groteske Tragödie daraus wird. Je enger das Quartett zusammenrückt, umso verpresster werden auch die Psychen. Am Ende sind wohl alle ein Fall für die Psychiatrie.

Der Plot freilich lässt sich easy an: Die Nachbarwohnung steht zuerst eine Weile leer, dann ziehen ein älterer Herr ein, später ein Klavier, und schließlich ein jüngerer Herr. Die beiden stellen sich als Petrus und Peer vor, außerdem lassen sie keinen Zweifel aufkommen, dass sie ein Paar sind.

Nicolien ist hellauf begeistert, wollte sie doch schon immer an einem echten Homo-Paar das gut machen, was sie in ihrer Kindheit Schlechtes über die Schwulen gehört hat. Maarten hingegen ist sehr reserviert, er hält als Volkskundler das Getue um Homoerotik für übertrieben. Außerdem hält er die beiden soziologisch gesehen für Underdogs, weil der eine Rentner und der andere erwerbsunfähig ist.

Die Story spielt in den 1980ern als Endlosschleife, es gibt kaum eine Entwicklung im Leben des Quartetts, außer dass es sich in Ermangelung von Handys ständig physisch besucht und mit allen Sinnen fertig macht. Von der Dramaturgie her gesehen könnte man die Nachbarn auch als eine Art Clowns aus dem Stück Warten auf Godot sehen. Die beide warten auf etwas, das nicht kommt, und erzählen sich gegenseitig, wie sie auf nichts warten.

Anfangs flüchtet Maarten noch ins Büro, wenn ihm alles zu viel wird, aber später in Rente ist er dem Alltagsterror ungeschützt ausgesetzt. Längst hat es sich das Ehepaar nämlich angewöhnt, alles in Form eines missverständlichen Sketches gegeneinander zu verwenden. Jemand lässt eine Bemerkung fallen, der andere versteht ihn falsch, jede Korrektur des Gemeinten führt jedoch noch weiter vom Verständnis weg. Eine Frage ist etwa, ob Schwule vor der Pubertät anders aufgeklärt werden müssen als Heteros.

Am Schluss verlässt jemand immer den Raum oder dreht sich wortlos an den Rand des Bettes. Manchmal wird etwas getrunken und so lange gewartet, bis endlich Kopfschmerzen einsetzen und den Disput beenden.

Dieser höllische Disput in den eigenen vier Wänden arbeitet jedoch die damals gesellschaftlich relevanten Themen Kollaboration, Homosexualität, Rassismus und Antisemitismus ab. Selbst in der Rolle von Ehepartnern getrauen sich Nicolien und Maarten nicht, offen darüber zu sprechen. Beide schieben Verwandte vor, die sie als ekelhafte Leitfiguren durch ihre letztlich verlogene Kindheit begleitet haben.

Der geistige Horizont hält sich wie die Schüssel-Lage der Niederlande meist unter Meeresniveau. Sinnerweiternde Reisen führen nach Frankreich, England oder Irland. Da sie meist als Radtouren ausgeführt sind, geht es letztlich nur um Ausrüstung, Regenschutz und Reifenflickzeug.

Als man schon nicht mehr mit einer Veränderung rechnet, verdünnt sich die Dramatik, denn die beiden „P“ ziehen sich zurück. Maarten glaubt, Spuren von Sabotage und Vandalismus im Treppenhaus zu entdecken, es kann aber durchaus sein, dass er selbst wahnsinnig geworden ist. Zumindest irritiert ihn jede Form von Realität.

Die Nachbarn sind natürlich ein Kunstwerk, welches das ewige Zusammenleben diverser Paarformen grotesk überhöht. Jeder Disput gerät zu einem Sketch. Und dahinter steckt die gnadenlose Erkenntnis beim Beobachten von Lebensformen: Von außen betrachtet tickt jedes Pärchen so schräg, dass man als Beobachter oder Leser erleichtert ist, wenn man es verlassen darf.

Für Eingeweihte des Büro-Kosmos zeigt sich durch diesen Nachlass-Roman der wahre Vorteil eines Büros. Gegen den Wahnsinn in der Ehe ist selbst das verrückteste Büroleben noch eine luxuriöse Kreuzfahrt.

J. J. Voskuil: Die Nachbarn. Roman. A. d. Niederl. von Gerd Busse. [Orig.: De buurman, Amsterdam 2012.]
Berlin: Wagenbach 2023. 304 Seiten. EUR 26,80. ISBN 978-3-8031-3358-8.
J. J. Voskuil, geb. 1926 in Den Haag, starb 2008 in Amsterdam.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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