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Helmuth Schönauer
Mit der Messlatte spielen.
Wir messen uns ins Out.
Stichpunkt

1.

In den 1960er Jahren wird der Physik-Unterricht noch analog durchgeführt.
Prädestiniert digitale Ereignisse wie der Strom oder die Quanten müssen mühsam in analogen Versuchsanordnungen den Kids beigebracht werden, die bekanntlich ziemlich spielerisch veranlagt sind.

Als der Klassensprecher den Wunsch vorträgt, der Physikprofessor möge doch die Spannung an einem Messgerät so weit erhöhen, dass am Gang draußen die Sicherung fliegt, sagt dieser den Lebens-prägenden Satz:

Messgeräte sind zum Messen da, aber nicht zum Spielen. – Man spielt nicht mit der Messlatte!


2.

Jahrzehnte später bekommen die damaligen Kids digitale Geräte und Apps, womit sie jeden Furz messen können, noch ehe dieser die Kontroll-Sensoren am After erreicht hat.

Auf den ausklappbaren Falt-Phones wird nun im Zehnminutentakt gemessen, was das Zeug hergibt.

– Gewichtszunahme nach einer Fleischkassemmel
– PV-Leistung bei Schleierwolken
– Reifenprofil nach einer Fahrt zum Arzt
– Wahrscheinlichkeit einer Infektion bei hustenden Sitznachbarn
– Kontostand nach Inflationsangleichung der Pension

Diese Daten werden spielerisch alle zehn Minuten abgefragt, wie man etwa beim Kartenspiel das Blatt kurz auffächert für den nächsten Auswurf.

Bedauerlich ist freilich, dass diese Apps auch außerhalb des Kartenspiels hemmungslos während diverser Sitzungen, Gespräche oder Kaffeejausen begutachtet und kommentiert werden.

Ein analoger Dino sitzt bei solchen Anlässen dann gezwungenermaßen staunend neben den großen Kindern, die ihre digitalen Bauklötze für eine spielerische Ritterburg an Information halten.


3.

Als gereifter Schriftsteller huldigt man seit jeher der These, dass Literatur möglichst nicht messbar sein soll. Die reine Literatur möge so einmalig sein, dass sie zwar mit sich spielen, aber sich nicht messen lässt.

Ähnliches sagt man ja auch der Liebe nach, die verlässlich am Ende ist, wenn sie eine App braucht, um Liebesschwüre zu versenden. Und sei es nur, um sich gegenseitig Emoticons oder Selfies zu schicken.

Oft sind die Literatur-Multiplikatoren freilich einfach überfordert, wenn sie ihre Aufgabe halbwegs robust einschätzen sollen. In dieser Verunsicherung greifen sie gerne zu Apps und spielen damit vor dem baffen Schriftsteller.

– Ein ehemaliger Intendant des ORF-Landesstudios ist bekannt für seinen Quotenfimmel. In seinem Büro lässt er sich einen App-Bildschirm einbauen, um die Quoten des Studios in Echtzeit zu messen. Da kann es schon passieren, dass er plötzlich das Gespräch unterbricht und auf den Bildschirm zeigt: Schau, jetzt haben wir die Zwanzig-Tausend erreicht!

– Ein ehemaliger Literaturverleger, der später ins Krimi-Milieu absackt, hat auf einem eigenen Bildschirm die Verkaufszahlen aufgeschlagen. Jede Äußerung seiner Gesprächspartner wird sofort mit den Zahlen abgeglichen. Er spielt mit diesen, bis sich die Argumente alle verflüchtigt haben und er endlich allein vor den Zahlen am sonst leeren Bildschirm hocken kann. Die Schriftsteller haben längst den Verleger verlassen und ihre Texte wieder mitgenommen.

– Verunsicherte Blogger am ganzen Kontinent pflegen ihre Persönlichkeitskrisen gerne mit Google abzuarbeiten. Wenn es ihnen schlecht geht, öffnen sie die Klick-App und machen auf Management. Dabei sagen sie den Gesprächspartnern, wie wenig Klicks diese eigentlich hätten und dass sie nur mehr aus Freundschaftsgründen an Bord bleiben dürften. Als Literaturzulieferer seien sie untauglich. Ohne Klick habe ihre Literatur keinen Kick!


4.

Das Schöne an diesem Messlatten-Spiel liegt darin, dass letztlich die Zahlen selbst zur Spielsucht werden wie die App selbst.

Laut einer Krone-Befragung an 1000 Personen wollen 41 Prozent der Nachrichten-Nutzer 2024 bewusst auf digitale Geräte oder Anwendungen verzichten.
Neujahrsvorsatz: Vier von zehn planen eine digitale Auszeit.
(KRONE 27.2.24)

Diese Vorsätze sind wahrscheinlich der Grund, warum zum Teil hervorragende Beiträge in den Blogs dieser Welt immer weniger Zuspruch finden.Oder es wird einfach falsch gemessen, weil sich die Messenden im Mess-Spiel verlieren.

Für Aussteigende aller Art gibt es Apps, wonach man die Nutzung diverser Geräte programmieren kann. Diese schalten sich dann bis zum nächsten Tag aus, wenn das Tageslimit überschritten ist.

Oder man macht sich einen Schaden an der eigenen Netzhaut zunutze. Diese schaltet dann auf dunkel, wenn genug Finsternis auf das Auge eingewirkt hat.
Wenigstens das Auge bleibt verlässlich und schaltet sich aus, ehe wieder jemand mit diversen Messgeräten zu spielen beginnt.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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