Helmuth Schönauer bespricht:
Hans Platzgumer
Großes Spiel
Roman
Wir feiern die verrücktesten Jubiläen, ohne oft genau zu wissen, welche Katastrophen und Kämpfe da dahinterstecken. Vor hundert Jahren, am 1. September 1923, wurde Tokio durch Brand und Erdbeben vernichtet. In einer dieser Erdbebenspalten verschwand auch das bisherige Regierungssystem und führte zu einem brutalen Machtkampf im Schatten des Kaisertums.
Hans Platzgumer greift diesen historisch und geographisch entlegenen Katastrophenfall auf, um durchzuspielen, wie sich Epochen an einer politischen Verwerfungskante reiben und Verwüstung anrichten.
Zu diesem Zweck entwickelt er einen Plot, der um den Erzähler Amakasu, einen Offizier der kaiserlichen Armee, angesiedelt ist. Dieser Ich-Erzähler arbeitet an der Spitze des Geheimdienstes und ist somit der ideale auktoriale Erzähler.
In einem autokratisch geführten Land weiß der Geheimdienst einfach alles und überlebt auch alle Regime, weil er der Machtausübung immer einen Schritt voraus ist.
Für auktorial erzählte Romane dient der Geheimdienst oft als perfekter Ersatz des Autors, weil er wie dieser die Erzählung durch Vorauswissen in die nächste Handlung treibt.
Ehe man sich als Leser auf das Große Spiel einlässt, sollte man noch ein paar Überlegungen abarbeiten. – Das Große Spiel ist einerseits eine politisch-literarische Inszenierung, wie sie vielleicht Robert Musil in seiner berühmten Parallelaktion zwischen dem deutschen und österreichischen Kaiser entworfen hat. Das große Spiel ist aber auch als kulturelles Happening zwischen der Musik Japans und Europas zu sehen. In mehreren Projekten hat der Musiker Hans Platzgumer nämlich die beiden Kultur-Flows fusioniert, und zu diesem Zweck viel Lesearbeit über japanische Geheimromane aufgewendet.
Warum ein Tiroler Autor über eine japanische Epoche vor hundert Jahren schreibt, erklärt der Autor anhand der Biographie seines Vaters, der etwa gleich alt geworden ist wie der japanische Kaiser und bei etwas Zufall durchaus der erzählende Geheimdienstoffizier hätte sein können, zumal er in Wirklichkeit in einer friedlichen Zeit Polizeioffizier in Tirol gewesen ist.
Als Voraus-Lektüre sollte man unbedingt das Personenregister lesen, das Beruf, Daten und Todesart der Protagonisten beschreibt. Von den fünfzehn angeführten Personen enden fast alle durch Suizid oder Hinrichtung.
Wie so oft bei historisch unterlegten Romanen orientiert man sich an möglichst wenigen Figuren, um halbwegs durch das Getümmel an Zeitgeschichte zu kommen. In diesem Fall empfiehlt sich die Konstellation Kaiser Yoshihito (Regentschaft 1912–1926) versus Anarchist Osugi (1923 in Polizeihaft ermordet).
Kaiser Yoshihito wird nach einem jahrhundertealten Ritual erzogen und entwickelt sich als Künstler und Romantiker, der mit der jähen Amtsübernahme überfordert ist. Wenn ein Kaiser zu seinem Volk spricht, kann dieses Volk das Gesagte höchstens symbolhaft deuten. (25) So gesehen ist es egal, welchen Künsten der Kaiser huldigt, es ist immer Kaiser-Kunst.
Dem gegenüber steht Osugi, ein Allroundgenie des Widerstands. Er hat sich Rhetorik, Denkweise und Alternativvorschläge mühsam erarbeitet, indem er als Stotterer sein Handicap mit zähen Übungen überwunden hat. Ähnlich wie der Kaiser verfasst auch er seine Schriften im Schweiße höchster Disziplin. Seine Vorstellungen verfügen über einen anarchischen Ansatz, der vielleicht von der realen Macht des Faktischen genauso weit entfernt ist wie es die kaiserlichen Spintisierereien sind.
In der Mitte dieser Extrempositionen hat der Geheimdienstler Amasaku das Wort, und in seiner subjektiven Erzählform ist er der einzig Objektive im Trio.
Das Erdbeben 1923 erschüttert diese Konstellation, im Chaos ist das Geheime die letzte Rettung, und so schaltet und waltet die Brigade rund um Amakasu nach Belieben.
Eine Parallele tut sich im Herbst 1923 in Marokko auf, als ein Erdbeben den Atlas erschüttert und der König wochenlang in Paris sitzt, während in Marokko der Geheimdienst das Rettungsruder übernimmt.
Im Großen Spiel sind wie in der Musik dutzende Stimmen angelegt, die darum ringen, zuerst das Erdbeben zu überwinden und später den Regierungswechsel von Kaiser Yoshihito auf Hirohito, der im Westen als Atombomben-Tenno bekannt ist.
Nach dem Abwurf der Nuklearbomben 1945 beendet auch der Erzähler seinen Bericht und wählt den Freitod durch Einnahme von Kaliumzyanid.
Wollte man einen historischen Roman gerecht würdigen, müsste man ihn wahrscheinlich ein zweites Mal erzählen, diesmal aus der Sicht des Lesers.
So könnte man das Große Spiel neben dem Aspekt einer Außenposition auch als Parallelaktion lesen.
Wie müsste das japanische Dreieck Tenno –Anarchist –Geheimdiensterzähler aussehen, wenn es in Österreich aufgestellt wäre? – Eine Spur legt der Autor selbst, indem er erzählt, dass er als zorniger Mensch aus Tirol geflüchtet sei, weil er den Polizeivater zu Hause nicht ertragen habe. Später ist es dann zu einer intensiven Beziehung gekommen. Das große Spiel endet mit einem versöhnlichen Akkord.
Hans Platzgumer: Großes Spiel. Roman.
Wien: Zsolnay 2023. 332 Seiten. EUR 26,80. ISBN 978-3-552-07357-9.
Hans Platzgumer, geboren 1969 in Innsbruck, lebt in Bregenz.
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