Print Friendly, PDF & Email

Helmuth Schönauer
Nachtplätze – Nachtschätze
Stichpunkt

1.
Am Nationalfeiertag erklären wir kitschig angefasst jedes Jahr unsere Liebe zu Österreich und singen die Bundeshymne. Weil sich immer weniger Einwohnende unter Begriffen wie Dolmen, Stromern, Hämmern, begnadet und zukunftsreich etwas vorstellen können, wird der Text der Bundeshymne, der schon einmal urheberrechtlich vom eigenen Nationalrat geschändet worden ist, vom öffentlich rechtlichen Funk mit passenden Bildern unterlegt.

2.
Wenn man die Österreicher fragt, was schön ist, sagen sie wie aus der Pistole geschossen: Österreich. Und wenn man weiter fragt, berichten sie von Kalenderblättern, die sie in ihrer Kindheit als Schönheit an den Wänden haben hängen sehen. Mittlerweile machen sich die Sonntagsausflügler ihre Kalender in Form von Selfies selber und gehen für diese Bilder bei Schönwetter dorthin, wo es amtlich schön ist.

3.
In einem volksnahen Wettbewerb ruft der ORF seit 2014 seine zwangsverpflichteten Konsumenten auf, schöne Bilder einzuschicken, die dann in einem abgekarteten Spiel bei einer Nationalfeiertags-Performance vorgestellt werden.

Dieser unsäglich schöne Wettbewerb nennt sich Neun Plätze – neun Schätze und umkreist als Sieger-Bild meist das Motiv eines Sees. Die bisherigen Siegesseen sind: Grüner See, Formarinsee, Körbersee, Schiederweiher, Lünersee und Wiegensee. Als Ausreißer fungieren ein Tal, ein Kircherl und eine Mühle.
(Seit 2019 gibt es das Ganze auch zum Fressen, 9 Plätze, 9 Schätze: So gut isst Österreich. In dieser Sendung kann man futtern, bis man platzt.)

4.
Seit drei Jahren nehme ich an der Vorausscheidung zu den optisch schönsten Plätzen mit meinem Mitterweg teil. Denn der Mitterweg im Innsbrucker Westen ist ein ideal-schöner Platz, er ist nämlich ohne jegliche rezipierte Architektur mit der bloßen Kunst von Asphaltierern und Betonierern harmonisch gewachsen, geleitet einzig von der Ästhetik des Volkes, das die drei Künste Überleben / Durchhalten / und Über-die-Runden-Kommen zu verbinden versucht.

5.
Ein Gang durch den Mitterweg ist nicht nur ein Flanieren durch Zeitgeschichte, Ökonomie und Soziologie, sondern auch ein relaxender Vorgang, der sich easy bei einer Fastfood-Box starten und über das Kraftzentrum Audi-Porsche-Lexus bis zur Schneerampe im Westen hinaus verlängern lässt. (Diese Rampe freilich wird in der schneefreien Zeit häufig für Suizid-Simulationen genutzt, dabei schauen Menschen in den kanalisierten Inn und überlegen sich, was wäre wenn?)

6.
Nachdem mein schöner Mitterweg offensichtlich deshalb zweimal gescheitert ist, weil ich ihn mit Bildern voller Tageslicht eingereicht habe, bin ich nun auf die Nacht ausgewichen. Vergebens. Dabei sollte man Tageslichtsieger immer auch mit den Augen der Nacht gegenchecken nach der Methode Nachtplätze – Nachtschätze. Da hätten wir früher einiges zu bieten gehabt, heute aufgrund von flächendeckender Überalterung nicht mehr.

7.
Die Siegerprojekte werden von der ORF-Aktion übrigens physikalisch schwer überrumpelt und überrollt. Sobald die Location als Gewinnerin ausgerufen ist, machen sich Tausende Selfie-Jäger auf den Weg, um Platz und Schatz in einem Aufwaschen zu zertrampeln.

Das könnte meinem Mitterweg nicht passieren, er ist seit Jahrzehnten schon als Trampelpfad angelegt.

Literatur: Helmuth Schönauer, Der Mitterweg ist ausweglos, Poem vom Rand der Stadt, kyrene 2013

Wenn Ihnen schoepfblog gefällt, bitten wir Sie, sich wöchentlich den schoepfblog-newsletter zukommen zu lassen, und Freundinnen und Freunde mit dem Hinweis auf einen Artikel Ihres Interesses zu animieren, es ebenso zu tun.


Weitere Möglichkeiten schoepfblog zu unterstützen finden Sie über diesen Link: schoepfblog unterstützen

Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

Schreibe einen Kommentar