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Helmuth Schönauer bespricht:
Thomas Antonic
United States of Absurdia
Oder die Glorifizierung des goldenen Westens
Epos
Abbildungen

Der Volksmund formuliert bei Größenordnungen relativ klar, sofern sich Größe überhaupt vorstellen lässt. Wenn etwas abnormal groß ist, sodass es sich kaum noch erzählen lässt, spielt es in Amerika. Und alles, was darüber hinausgeht, spielt in Absurdia. Dabei ist die Grenze zwischen Amerika und Absurdia eine weiche, obwohl sie ähnlich hart gedacht ist wie jene zwischen Amerika und Mexiko.

Thomas Antonic beginnt sein Epos mit einem perfekten Eingangsbild: Auf einem Western-Heft, das sich „Horse Tales“ nennt, wird eine Phantasie-Ausgabe aktuell dem 15. Jan. – 15. Feb. 2022 zugeordnet.

Aber wahrscheinlich haben die Antonic-Leser ohnehin ein Abo, sodass sie dem Epos sofort einen markanten Platz im Regal der Besonderheiten zuweisen können. Der Autor tritt in diesem Feature als Admiral auf, während am Schaubild ein Pferd gegen Wind und Trockenheit an-grast.

Der Titel Admiral ist durch ein fehlgeleitetes Fake-Mail belegt. Im ersten Vorwort aus der Neuen Welt ist von einer gigantische Erbschaft die Rede, die der Admiral in Amerika antreten soll, im zweiten berichtet Admiral Antonic, wie er die neue Welt in Besitz nimmt. Später wird er notieren, dass er eine Lehrstuhl-ähnliche Einrichtung erobert und in Ermangelung eines Kaisers für Van der Bellen staatstragend in Besitz genommen hat.

Ehe das Book-Movie über Absurdia beginnt, sollte man noch darauf hinweisen, dass es sich um ein Epos handelt. Diese Form ist am ehesten geeignet, etwas Gigantisches halbwegs in geordnete Satzbahnen zu lenken.

Im engeren Sinn ist das Epos eine Hommage an jene Poesie, die hinter dem Langgedicht liegt, das bei der Eroberung und Darstellung des Westens eine entscheidende Rolle spielt. Immerhin ist der epische Amerika-Gestus eines Bob Dylan in aktueller Gegenwart mit dem Nobelpreis für Literatur geadelt worden.

Die drei Hauptkapitel geben Orientierung und erzählen die Geschichte in Kürzestform: Teil 1: Kommen Gehen / Teil II: Bewegung ohne Ausweg / Teil III: One-way Ticket to Space.

Vorerst wird geschildert, wie die Menschen nach Amerika gekommen sind und heute noch kommen, dabei ist die frühzeitliche Besiedelung noch in raren Mythen spürbar. Etwa in der Sage vom Koyoten, der unbedingt heiraten und sich vermehren will, und aus übertriebenem Balzverhalten einen Kolibri frisst, der ihn im Darm so lange quält, bis er ihn wieder auskackt. (40)

Ähnlich muss man sich die militante Besiedlung des Kontinents durch die Weißen vorstellen, die vom Kolibri der Schöpfung gequält werden, bis sie sich in Sagenhafter Zukunft dereinst dem Land fügen werden. – Je unbeschreiblicher ein Land, umso größer die Beschreibungslust.

Das Aufsuchen von Nachrichten, Erforschen verschütteter Quellen, Inszenieren von Narrativ-Features und das Fließen-Lassen von Gesprächen spielen eine entscheidende Rolle. Der Epos-Macher nimmt zwischendurch irdische Gestalt an und erforscht an der Uni den Ginsburg-Nachlass (46), er ändert seinen Forscherplan, als er mit unbekannten Quellen zu Absurdia überhäuft wird, und versucht schließlich Ordnung in sein Forscherchaos zu bringen, indem er die gespeicherten Suchanfragen auf dem Browser abarbeitet. Der sogenannte Browserverlauf ist nicht nur forensisch eine Edelquelle, auch vage Beatniks und lose Landbesucher werden durch diese gespeicherten Daten in einen linearen Sinnverlauf gestürzt.

Eine Zwischenbilanz fällt marktwirtschaftlich korrekt aus. „Mit Literatur ist es übrigens wie mit Sam’s und Bürgermeister. Irgendwer Superer sagt, dass etwas super ist und schon ist die Sache gegessen.“ (58)

Den Schwerpunkt der Forschungen über das absurde Amerika legt der Epos-Macher auf die Beatniks, die letztlich seit Jahrzehnten von innen her das kaputte Amerika beforschen, künstlerisch in Szene setzen und es vor allem als freies Individuum auszuhalten versuchen.

Eine ebenerdige Wohngelegenheit wird zu einem Beat-Schloss, worin es sich nicht nur wohnen, sondern auch träumen lässt. Prägnant gute Träume handeln übrigens von Inzest, weil darin der Wunsch bedient wird, sich selbst zu zeugen. (90)

Und was soll das Ganze, fragt sich das Ich, als es ein Jahr Einsamkeit heraufblitzen sieht? Ich bin Teil einer Software, die ein fiktives Oregon erschafft. „Es gibt nicht einmal Oregon. Nur Linien auf Landkarten, Verträge und Gesetzestexte, die Oregon behaupten. Zäune, Schilder, Nummerntafeln, Verwaltungseinheiten, Gehirne, Gewehre.“ (69)

Das alles gilt es aufzuschreiben, damit es nicht im Kopf herumrotiert. (61)
In diesem Lichte sind auch die Fotos zu sehen, kleine geordnete Pixel in einer unfassbaren Welt. In der Wüste ein Pfeil, der zu Jesus führt, an andere Stelle, Halten verboten wegen Kirche, dann wieder das Gerippe eines abgerosteten Autos.

Und dahinter steckt diese große amerikanische Erkenntnis: „Was ich am Menschsein so liebe, ist alles im Auto drin.“ (258)

Das zweite Kapitel nennt sich „Bewegung ohne Ausweg“. Hier reist die erzählende Lenkradhand im Sinne eines Road-Movies durch Leere, Wüste, Seele und Gesprächsdunst. Ganz Kansas ist leer! (164) Es ist ein Irrtum zu glauben, über Amerika müsse man etwas erzählen. Für die letzten Dinge und folglich auch für Absurdia gilt, dass es nichts zu erzählen gibt. We are lost!

Auch die Fotografie versagt für diesen Notruf, dennoch sind im Buch immer die Koordinaten eingeblendet als Lesekimme in der Hoffnung, dass jemand diese Ortsangaben nachgoogelt und den einen passenden Pixel-Haufen findet, der über den Koordinaten ausgebreitet ist.

Im letzten Kapitel geht es um die letzten Dinge. Was liegt hinter Amerika? Der Reisende sucht sich jeweils passende Sender im Autoradio und versucht ihnen auf die Schliche zu kommen. Aber alle Programme enden als Störsender, deren Rauschen nicht zu scannen ist.

Auf Ortsschildern sind manchmal Einwohnerzahlen angegeben, sie sind aber ein Istzustand und sagen nichts vom Ende der Welt aus, wie viele Menschen werden beim Weltuntergang wo wohnen? Lässt es sich errechnen, wenn man nur Zählwerke der bisherigen Besiedlung und Ausrottung zur Verfügung hat?

Wollte man die geheimnisvollen Knoten der indigenen Nachrichtenkultur auf die Gegenwart anwenden, müsste man Hakenkreuze als Khipus knüpfen. Eine verschollene Nachricht lautet: „Ich habe den Wald gelernt, bis ich gefunden wurde.“ (301)

Der Erzähler hört sich an Universitäten Vorlesungen gegen das zerrissene Land an, im Sumpf des Südens versinkt dieses bereits in sich selbst und wird sporadisch mit einem Zaun gegen den Süden geschützt. „Amerika liegt in den letzten Zügen“, heißt es in einem Schlussmonolog, der als großer Gesang auf Absurdia vielleicht in den Weltraum gestrahlt wird. Die letzten Reichen machen sich mit Privatkapseln auf den Weg in den Space.

Thomas Antonic verwendet so gut wie alle Genres, die die Literaturgeschichte aufzuweisen hat, um Neuland, Nichts oder Negentropie zu beschreiben. Vom Abenteuerroman, über Western, Roadmovie, Schinken, Langgedicht, Protestsong, Memorial-Inschrift bis hin zu dokumentierter Landart ist alles aufgeboten, was diesem „United States of Absurdia“ gerecht werden könnte.

Selbst das Quellenverzeichnis strotzt noch vor Innovation: „Sätze, Satzfragmente, vereinzelte Absätze, zum Teil verbatim (aus originalen fremdsprachigen Texten vom Autor übersetzt), zum Teil paraphrasiert, wurden folgenden Texten, Filmen, Songs, Podcasts, Radiosendungen etc. entnommen: […] “ (314)

Thomas Antonic: United States of Absurdia. Oder die Glorifizierung des goldenen Westens. Epos. Abbildungen.
Klagenfurt: Ritter 2022. 318 Seiten. EUR 27,-. ISBN 978-3-85415-637-6.
Thomas Antonic, geb. 1980 in Bruck / Mur, lebt in Wien.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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