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Helmuth Schönauer bespricht:
Georg Lux / Helmuth Weichselbraun
Lost Places in der Alpen-Adria-Region

Die Lust nach kaputten Sachen geht auf die Erkenntnis zurück, dass die Kunst der Dekonstruktion mindestens so lebensnotwendig ist wie jene der Konstruktion.

Gerade nach Jahrzehnten des sogenannten Aufbaus wächst jeweils der Wunsch, das Aufgebaute verfallen zu sehen. So ist es kein Wunder, dass Verfallskultur und Lost Places inzwischen eigene Touristikzweige geworden sind.

Eine frühe Form der Lost-Places-Ideologie geht übrigens auf die Romantik zurück, als man in Ermangelung von Ruinen an exponierten Stellen sogenannte Kunstruinen erbaute, um das Gefühl des Vergänglichen als Bauwerk zu genießen.

Georg Lux und Helmuth Weichselbraun haben aus ihrer Arbeit als Journalist und Fotograf heraus die Kultur der verlorenen Plätze in geographische Einheiten parzelliert und geben regelmäßig über gewisse Gegenden spezielle Bildbände heraus.

Die aktuelle Verfallsexpedition führt in die Alpen-Adria-Region und ihre Highlights zeigen sich als verstecktes Höhlensystem, zerschossene Kapelle, stillgelegter Bahnhof, rostige Jacht, jede Menge Bunker, geflutetes Bergwerk, überwucherte Gefängniseinrichtung oder zusammengefallenes Hotel.

Diese grobmaschige Aufzählung lässt erahnen, dass alles zu einem Lost Place werden kann, egal wie entlegen oder zentral die Einrichtung ursprünglich geplant war. Oft sinkt zuerst die Gegend in einen Dornröschenschlaf, und reißt allmählich die Statusgebäude in den Dämmerschlaf mit. Manchmal geht auch ein Regime zu Ende, wie das Tito-Jugoslawien, und hat plötzlich für staatstragende Zentren keine Verwendung mehr. Oder aber eine Bahnstrecke wird begradigt und lässt in den ehemaligen Kurven funktionslose Signale und Bahnsteige zurück wie am ehemaligen Grenzbahnhof Tarvis.

Am Beispiel dieser „Endstation“, wie das Kapitel Tarvis überschrieben ist, lässt sich klar die Dramaturgie dieses Reiseführers der besonderen Art aufzeigen. In einem kleinen Essay wird auf die wichtigsten Elemente einer Bahnstation eingegangen, dabei reichen die Besonderheiten von den Stil-Tapeten, verwitterten Leitsystemen, Abflusssystemen für Dachgewässer bis hin zu einer typisch italienischen Espressomaschine im ehemaligen Café.

Bemerkenswert an diesen Alltagsdingen ist ihre universelle Art der Verwitterung. Eine elektrische Kasse zerfällt wahrscheinlich überall auf der Welt in ähnlicher Weise und zu einem bestimmten Ablaufdatum. Aus allen diesen Zeit-Devotionalien lässt sich ablesen, wie die Dinge einst entstanden sind, und in ihrem Zerfall zeigen sie die Resilienz der diversen Zeitschichten.

Vor allem die bahnspezifischen Einrichtungen wie Telekommunikation, Röhrenbildschirm, Signal-Bord oder Fahrplan-Tableau verdeutlichen dem ehemaligen Passagier des Bahnhofs wie einem Archäologen, was im Hinter- und Untergrund der Züge alles abgelaufen ist, während er bloß einen simplen Grenzübertritt wahrgenommen hat.

Das Fotomaterial erinnert in seiner Dramaturgie an das Märchen von Dornröschen, alles ist eingefroren und vom Schleier der Zeit übertüncht. In den Fotos kommt die Stärke eines Buches zum Vorschein, die Bilder sind nämlich geruchslos, man kann sie gefahrlos betrachten, und vor allem ist das Betreten eines solchen Ambientes legal, wenn es qua Buch stattfindet.

Bei Bildern mit geheimnisvollen Motiven kommt den Bildunterschriften eine besondere Bedeutung zu. Im konkreten Fall freilich sagt die Unterschrift „Die Natur erobert die Bahnsteige zurück“ (17) nicht viel, außer dass es sich um eine beinahe militärische Aktion handelt, wie ja auch seinerzeit die Eroberung der Natur militärisch geschehen ist.

Nach der Würdigung der Dekonstruktion folgen konstruktive Hinweise, etwa auf welchem Radweg man in dieses Areal gelangt, welche Restaurants außerhalb der Kernzone liegen. Der Lost Place wird als touristisches Erlebnis installiert, das zu positiven Körperreaktionen führt wie Hunger oder Müdigkeit.

Ähnlich ist auch das „heruntergelebte“ Park Hotel Obelisco im Hinterland von Triest aufbereitet.(146) Hier kann sich das Auge kaum sattsehen, weil alles kaputt ist, Gebäude, Speisesaal, Gartenanlage, Parklandschaft, Skulpturen. In solchen Augenblicken überfällt einen Stolz auf sich selbst, weil man nicht nur diese Zeit, sondern konkrete Anlagen überlebt hat. In einem Gedankenspiel schiebt der Leser die heute noch funktionierenden Anlagen in einer Modellrechnung in die Zukunft und vermutet richtig, dass vielleicht alles ein Lost Place ist, was uns in der Gegenwart so ans Herz gewachsen ist.

Lost Places sind ideale Begegnungsstätten mit der Vergänglichkeit allen Lebens. Und wie im Tourismus üblich, kann man sich in angenehmen Dosen beglücken und begruseln lassen, ehe man zum nächsten Ort schreitet.

Ein ausführliches Quellenverzeichnis, Reiserouten und eine Auflistung begleitender Einrichtungen zwingen den Leser geradezu, vom Buch aufzuschauen und eine Entdeckungsreise anzutreten, sofern nicht eine Pandemie wieder einen ganzen Landstrich zu einem Lost Place gemacht hat.

Georg Lux / Helmuth Weichselbraun: Lost Places in der Alpen-Adria-Region.
Graz: Styria 2021. 208 Seiten. EUR 27,-. ISBN 978-3-222-13681-8.
Georg Lux, geb. 1974, lebt in Klagenfurt.
Helmuth Weichselbraun, geb. 1972, lebt in Wernberg

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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