Helmuth Schönauer
Hinter mir die Wurst
Stichpunkt

Wenn du wüsstest, was in mancher Wurst drin ist, würdest du sie nicht essen! Diese halb-vegane Drohung erinnert ein wenig an die Desaster-Motive, die zur angeblichen Abschreckung auf Zigarettenpackungen abgedruckt sind.

Wurst und Raucherbein haben allerdings eine Schwachstelle, nämlich den Konsumenten, der gelernt hat, dass Konsumieren aus Ausblenden von Zusammenhängen besteht.

Wenn du dir bei einer Online-Bestellung die Lieferkette hinzudenkst, wo ein prekäres Subunternehmen nach dem anderen so lange an deinem Paket herumtransportiert, bis alle den Mindestlohn umgangen haben, kannst du dir den wahren Wert jener Ware ausrechnen, die du gerade auspackst. Manche sind dadurch so enttäuscht, dass sie gleich alles wieder zurückschicken, denn das Wesen des Onlinehandels besteht aus Transport und nicht aus Inhalt. Je mehr Retouren es gibt, umso wertvoller wird das Produkt.

Im Konsum geht es immer darum, den Zusammenhang zu verschleiern. Du darfst entweder nicht wissen, wo die Ware herkommt, weil du dir sonst den Magen verdirbst, noch darfst du wissen, wo das Ganze hingeht, weil du sonst nicht nur bei der Wurst entsetzt den Schließmuskel vorzeitig betätigen müsstest.

Die Dinge werden durch Wording zum Verschwinden gebracht, aber nicht in der Realität. Das Plastiksackerl löst sich auf, indem man Recycling dazu sagt, in Wirklichkeit aber wechselt es nur den Einsatzort: Sinnlosem scheinbar einen Sinn zu geben.

Neben den greifbaren Konsumgütern unterliegen auch Dienstleistungen dem Wording, wonach alles glücklich macht, solange du nicht weißt, wie es gemacht wird.

Prägnant ist etwa die Erkenntnis aus der Kreuzschifffahrt, wo man sagt: Wenn du einmal in einer Kabine des Küchenpersonals geschlafen hast, gehst du sofort an Land und besteigst das Schiff nie wieder!

Eine ähnliche Ausblende-Mechanik ist generell im Tourismus im Einsatz. Wenn du wüsstest, wie dich die Menschen in jener Airbnb-Anlage verfluchen, die du am Display gebucht hast, würdest du vielleicht eine andere Reiseform wählen.

Auf manchen Inseln des Mittelmeers gibt es haufenweise Doppellager, in dem einem wohnen die Touristen, in dem anderen die Angelandeten. Zu den einen Lagern sagt man Freizeit-Ressort, zu den anderen UHNR-Hilfswerk. Die Trennung funktioniert nur, wenn man den Zusammenhang ausblendet und jeder auf sein Stück Strand schaut. Der eine meint, es sei Europa als Paradies, der andere, es sei bloß eine Zwischenstation für das Paradies.

Angesichts eines jeden Lockdowns (wir werden vermutlich zwölf haben, wenn es eine mythologisch gesicherte Größe kriegen soll) stellt sich die Frage, warum man das Geschäft mit der Verdrängung amtlich verordnen muss.

Ein Mensch mit funktionierenden Sinnesorganen müsste doch freiwillig jeden Urlaub abbrechen, wenn er an überfüllten Spitälern und Leichenhallen vorbei zu seinem Gletscher fährt. Aber nein, erst wenn die Behörde verordnet, dass im Spital kein Platz mehr für seine Sportverletzung ist, wird der Rummel abgeblasen und unter dem Gejammer nach Ausfallzahlungen eingestellt.

Der Mensch reagiert eben wie in biblischen Zeiten: Vor mir der Apfel, hinter mir die Wurst!

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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