Print Friendly, PDF & Email

Helmuth Schönauer bespricht:
Paul Lendvai
Über die Heuchelei
Täuschungen und Selbsttäuschungen in der Politik

Der einzige Außenpolitiker von europäischem Rang, den Österreich momentan aufbieten kann, ist Paul Lendvai. Seit Jahrzehnten arbeitet er als Korrespondent, Journalist, Historiker und Verleger daran, die Unwissenden mit den Mächtigen in Verbindung zu bringen. Freilich hat sich etwas Glitschiges in die Nachrichtenwelt eingeschlichen: Was man früher diplomatisches Wirken genannt hat, lässt sich heute am besten mit Heuchelei umschreiben.

[…] möchte ich insbesondere die Rolle der Heuchelei, der Doppelmoral, der menschlichen und politischen Doppelzüngigkeit und Scheinheiligkeit bei den im Rückblick unverständlichen Handlungen und Erklärungen von Spitzenpolitikern behandeln. (9)

Allein schon seine Biographie macht Paul Lendvai zu einem wachen Beobachter der Konflikte in Europa. 1944 in Ungarn als Fünfzehnjähriger von den Nazis verschleppt, überlebte er in Budapest den Krieg, erhielt 1953 Berufsverbot und konnte schließlich 1957 nach Österreich fliehen. 

Seither ist er der Wissens-Botschafter in der politisch-journalistischen Welt.
So hat er wesentliche Konflikte als Korrespondent miterlebt, wie den Zerfall der Sowjetunion, die blinde Russlandpolitik der deutschen Sozialdemokratie, den Bürgerkrieg am Balkan, sowie die leeren Versprechungen der EU an die Erweiterungskandidaten.

Zu den sogenannten Machern dieser Ereignisse hat er jeweils persönliche Kontakte aufgebaut, indem er Interviews und biographische Artikel für die Presse in Westeuropa verfasst hat.

Schwerpunkte seines analytischen Wirkens sind naturgemäß Putin himself, Viktor Orban und dessen Lieblingsfeind George Soros.

In insgesamt neun Kapiteln verhandelt Paul Lendvai die Geschichte Europas anhand ausgewählter Pressetermine, Banketts und journalistischer Events. Der durchgehende Eindruck: Die heucheln alle!

Zwischen den ausgegebenen Kommuniqués und den tatsächlichen Absichten herrscht ein beinahe kontinentaler Gap. Aber nicht nur Machtinhaber spielen die Orgel der heuchlerischen Töne, viel schlimmer sind die journalistischen und parteipolitischen Parvenüs, die im Stile dekadenter Höflinge die Szenerie besiedeln.

In diesem Lichte ist auch das letzte Kapitel zu sehen, das sich dem Jugendstil-Kanzler Sebastian Kurz widmet. Umgeben von studentischen Höflingen heuchelt er seine Botschaften ins Mikro, alles ist gespielt, nichts wird dem Zufall überlassen. Und selbst als der Kanzler zurückgetreten ist, läuft seine Propagandamaschine leerer Sätze noch weiter und dadurch wohl ins Leere. 

Innerhalb einer Woche kommen drei verschiedene Kurz-Filme in die Kinos, die letztlich nur deshalb Interesse auslösen, weil man ihre Financiers nicht vollends entlarven kann. Dem Autor ist der Ekel anzumerken, der  beim Rezensieren dieser Filme aufkommt. An jener Stelle, an der die ehemalige Landwirtschaftsministerin mit glänzenden Augen erzählt, dass Sebastian schon mit acht Monaten gehen und mit zwölf Monaten in ganzen Sätzen sprechen konnte, würgt es den Kommentator, dem es mit diesem Kapitel gelingt, den Nullpunkt von Heuchelei trefflich zu beschreiben.

Paul Lendvai ist eine rare Persönlichkeit auf dem Feld der Aufklärung und der großen Gedanken geworden, vergleichbar mit dem kürzlich verstorbenen Karel Schwarzenberg, der den Sebastian übrigens für einen falschen Fuffzger gehalten hat.

Nach der alten Schule der Diplomatie müsste sich jeder Journalist und jeder Kleinpolitiker an der Nase nehmen, wenn er die Essays über politische Heuchelei liest. Denn Politik ist kein Gefäß mit Schmierstoff für Unterhaltungsmedien, sondern das Gegenteil von Krieg. Dieser bricht unweigerlich aus, wenn die Heuchelei einen kritischen Punkt überschritten hat.

Allein schon das Abarbeiten des Namensregisters beschäftigt den Leser eine ziemliche Weile und dient als Skala des eigenen Nichtwissens. Und die angeführten Publikationen füllen spielend jede Institutsbibliothek.

Natürlich ist das zitierte Wissen von Mitarbeiterstäben in Redaktionen und Universitäten zusammengetragen. Aber die große Leistung des Paul Lendvai besteht darin, es in das Metermaß persönlichen Wissens zu übertragen.

Wenn die Heuchelei auf europäischer Ebene so gefährlich ist und zum Krieg führt, dann führt sie auch auf lokalen Ebenen zu Zerstrittenheit und Ausgrenzung. 

Anhand dieses bedeutenden Buches die kleinen Konflikte in Kommunen und Wirtschaftsräumen auf Heuchelei hin zu untersuchen, könnte ungeahnte Erkenntnisse auslösen. Wem die Lektüre eines ganzen Buches zu mühsam ist, der kann sich an die Aphorismen des polnischen Autors Stanislaw Jerzy Lec (1909-1966) halten, die extra für Kurzzeit-Leser eingebaut sind: Tote wechseln mühelos die politische Ansicht. (29)

Paul Lendvai: Über die Heuchelei. Täuschungen und Selbsttäuschungen in der Politik. Wien: Zsolnay 2024. 176 Seiten. EUR 23,70. ISBN 978-3-552-07391-3.
Paul Lendvai, geboren 1929 in Budapest, lebt seit 1957 in Wien.


Wenn Ihnen schoepfblog gefällt, bitten wir Sie, sich wöchentlich den schoepfblog-newsletter zukommen zu lassen, und Freundinnen und Freunde mit dem Hinweis auf einen Artikel Ihres Interesses zu animieren, es ebenso zu tun.


Weitere Möglichkeiten schoepfblog zu unterstützen finden Sie über diesen Link: schoepfblog unterstützen

Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

Schreibe einen Kommentar