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Helmuth Schönauer bespricht:
Alain Finkielkraut
Vom Ende der Literatur
Die neue moralische Unordnung
Essays

Wenn das Ende der Literatur ausgerufen wird, gibt es der Leserschaft einen Stich ins Herz, wie wenn jemand den Weltuntergang exakt terminisiert hätte. Andererseits erfährt die Lese-Apokalypse durchaus Zustimmung. Denn so, wie die Literatur aktuell beisammen ist, wird sie es nicht mehr lange schaffen, würde Nestroy sagen.

Alain Finkielkraut wird dem deutschsprachigen Publikum mit einem unkonventionellen Vergleich vorgestellt. Er ist der Peter Sloterdijk Frankreichs. Sein durchkomponierter Abgesang vom Ende der Literatur ist aus mehreren Essays zusammengefügt, die letztlich auf der These aufbauen, dass wir Teile unserer verschriftlichten Kultur für sakrosankt halten müssen, damit uns nicht das Wertesystem um die Ohren fliegt.

Am Beginn ist daher eine Schlüsselszene aus Marcel Prousts Roman Recherche aufgeführt, worin der Held Swann einer Abendgesellschaft von einer Leseerfahrung berichtet, die ihn sehr erfreut hat. Eine bockige Neoadels-Familie durchbricht darin die strenge Etikette, indem sie den Kindern den Vortritt beim Betreten eines Raumes gewährt.

Am Tisch bei Swann sitzt eine aufgeregte Mademoiselle Céline, die wütend über diese neuen Rituale herfällt und es sich verbittet, dass in der Literatur von solchen entwürdigenden Neuerungen berichtet wird.

Diese kleine Szene dient Alain Finkelkraut als Unterstützung seiner These, dass eine große Sache etwas sehr Kleines sein kann, wenn sich Zeit und Ort für die Rezeption verändert haben.

Auseinandersetzungen, die wir momentan über Gendern, Migration und Culture Clash führen, sind letztlich ein aufgeregtes Abendessen mit mehr oder weniger angekifften oder sonstwie keifenden Personen.

Einen Schwerpunkt des Essays bildet die Anfeindung durch Feministinnen, wie sie dem späten Philip Roth widerfahren ist. Im Zusammenhang mit der MeToo-Bewegung wird alles in Frage gestellt, ja geradezu verboten, was eine Rest-Ironie der Figuren beinhalten könnte.

Der ironische Master-Roman über den menschlichen Makel (The Human Stain, 2000) ist, wenn man Metaebene, Humor, und biologische Hinfälligkeit der Männlichkeit abzieht, ein gefundenes Fressen für jene, die genau wissen, wer über welches Thema in welchem Stil zu schreiben hat.

Wegen seiner Grandezza, mit der Philip Roth Themen ins Lächerliche zu führen weiß, eignet er sich bestens als Reibebaum für alle zeitgeistigen Diskussionen. Selbst sein Tod 2018 kann die Meute nicht einbremsen, die noch immer militant über Teile seines Werkes herfällt und dieses fallweise ächtet und aus den Regalen verschwinden lässt.

Das Ende der Diskussionskultur führt fast automatisch zum Ende jener Literatur, die jahrhundertelang als letzte Instanz für unlösbare Fragen angesehen wird. Man versteht überhaupt nichts mehr, weil man alles verstehen will. (197)

Den meisten Strömungen ist es gemein, dass sie in ihrer Ausschließlichkeit die gerade am Markt befindliche Komplementärmenge zum eigenen Blickwinkel vernichten und verbieten wollen. Wenn letztlich alles verboten ist und eine Ungeheuerlichkeit wird, bleibt nichts mehr, was man schreiben, aufführen oder lesen könnte.

Unter diesem Aspekt der Radikalisierung werden gewichtige Fragen der Kunst und Literatur der letzten Jahre zur Sprache gebracht. Darf man die abgebrannte Notre Dame überhaupt aufbauen, wenn sie nicht mehr authentisch nachgebaut werden kann? Darf jemand über die Problematiken eines anderen schreiben, wenn er nicht in seiner Haut steckt? Dürfen auf der Bühne Menschen Rollen übernehmen, die sie im sonstigen Leben verachten?

Die Aufgabe der Literatur, Schicksale probehalber zu entwickeln und darüber zu debattieren, wird von diesen Strömungen in Abrede gestellt. Selbst große Bewegungen wie Umweltschutz und Tierliebe sind in ihrer Radikalität längst auf Abwegen, indem sie sich in einen Dogmatismus verwickelt haben, der keinen Inhalt mehr aufweist, sondern nur den Gestus.

Quasi als Traum-Paar aus der guten alten Zeit ist der Essay-Zwilling angelegt: Die Philosophie des Romans / Der Roman der Philosophie. Ein Besuch beim alten Milan Kundera liefert schließlich versöhnliche Glücksmomente. Ein Toter, den ich liebe, wird für mich ganz einfach nie tot sein. Ich kann nicht einmal sagen, ich habe ihn geliebt. (209) 

Eine solche Tot-Geliebte könnte dann die Literatur sein. Sie könnte nach dem Ende der Literatur die neue moralische Unordnung besiegen, wie es im Untertitel des Buches heißt.

Alain Finkielkrauts Essay stellt die Phänomene des brutalen Umgangs mit uns, während wir über Literatur und Kunst diskutieren, in einen ergänzenden Lichtkegel. Seine Fallbeispiele aus dem französischen Kulturbetrieb, gespiegelt an der unbestechlichen Reflexionswand des Philip Roth, lassen unsere in Berlin, Frankfurt und Innsbruck geführten Rasereien in einem schlampigen Licht erscheinen: Ironie wäre angesagt.

Alain Finkielkraut: Vom Ende der Literatur. Die neue moralische Unordnung. Mit einem Vorwort von Harald Martenstein. A. d. Französ. von Rainer von Savigny. [Orig.: L’après littérature, Paris 2021].
München: Langen-Müller 2023. 220 Seiten. EUR 22,70. ISBN 978-3-7844-3656-2.
Alain Finkielkraut, geb. 1949 in Paris, lebt in Paris.


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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. c. h. huber

    ganz deiner meinung, lieber helmuth! auch mir geht dieses extrem moralinsaure gehabe momentan total gegen den strich. wollen wir literatur wirklich unter diesen bedingungen schreiben und lesen? nein, sag ich! wie langweilig, wenn es in allen büchern und leben nur mehr korrekt zuginge.

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