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Helmuth Schönauer bespricht:
Franzobel
Im Hirnsaal
Norm und Abweichung

Poetikvorlesungen besitzen den Glaubwürdigkeitsgehalt einer Teleshopping-Präsentation. Diese Einschätzung von Julie Zeh deutet darauf hin, dass es sich bei Texten von Autoren über sich selbst um eine Autor-Immunstörung handelt.

Im Hirnsaal ist jedenfalls eine aufregende Location, worin der Universal-Autor Franzobl seinen Essay über sich selbst, sowie das Lesen und Schreiben im Literaturbetrieb eingerichtet hat. Der Essay ist 2021 im Rahmen der Ernst-Jandl-Dozentur für Poetik für die Alte Schmiede in Wien entstanden. 

Da Franzobel sowohl in Rede als auch in Schreibe als Solitär arbeitet, lässt sich der Essay über Norm und Abweichung lesen, als ob man gerade dem Autor lebend gegenübersäße.

Franzobel nämlich redet nicht lange herum, sondern spricht die Zuhörenden Face to Face an, jeder Satz eine Anekdote, jede Verknüpfung ein Abenteuer, jede Übertreibung ein Stück Präzision!

Da der Autor so gut wie in jedem Genre zu Hause ist und mehr oder weniger alle Bühnen der Literatur beherrscht, fällt es ihm auch leicht, jeweils an die Grenze einer literarischen Szene zu gehen mit der Fragestellung: Was ist gerade noch Literatur und was nicht? An dieser Kante stellt sich auch die Frage nach Norm und Abweichung.

In der ersten Szene werden wir mit der höchst sensiblen Laila vertraut gemacht, die halb Kind, halb Genie eine eigene Sprache entwickelt hat. Für sie ist das Legen von Steinen eine archaische Form der Literatur, die nur sie selbst zu deuten weiß. Dieses Steine-Drehen taucht als sinnstiftendes Element auch in jener Lyrik auf, die der Art Brut zugeordnet wird. Als besonders heftige Form dieser Grenzliteratur gilt in Österreich das Projekt Gugging, das unter anderen den Autor August Walla gefördert hat. Franzobel hat mit dieser Künstlergruppe in Klosterneuburg öfters Werkstätten absolviert und dabei sein eigenes Schreiben an den Rand dieser Szenerie gestellt.

Eine ähnliche Zugangsform ergibt sich durch die Arbeit mit lernschwachen Kindern, wenn die Literatur gleichzeitig Therapie und Lehrstoff wird. Um lernschwach überhaupt zu definieren, muss man Normen setzen, die Abweichung dazu liefert dann die Literatur.

An dieser Überlegung scheitert schließlich auch das Urheberrecht, das von einer gewissen Norm ausgeht, damit es auf eine Person übertragen werden kann. Vielleicht sollte man die Künstliche Intelligenz ähnlich behandeln wie die Art Brut, als Grauzone zwischen Norm und Abweichung.

Von diesen körperlichen Befindlichkeiten ausgehend erzählt der Autor von sich selbst, wenn er ins Schreiben gerät. Obwohl es sich um eine geistige Tätigkeit handelt, löst das Schreiben, poetisch und rauschhaft betrieben, einen von der Welt entrückten körperlichen Zustand aus. Dieser Entrückung muss anschließend mit Disziplin und Reglementierung begegnet werden.

In der Sprache geht etwas zusammen, was sonst nicht geht. (30) Literatur ist etwas, wo die Welt verhandelt wird. (58) Die Groteske ist das Hauptelement des imaginären Films Austrian Psycho. (68)

Mit markanten Thesen gliedert Franzobel seine literarische Wurst, an der er Tag und Nacht arbeitet, die Thesen sind dabei eine Art Werkzeug, mit dem er den Stoff durchschneidet.

Unterstützt wird die Arbeit am mündlich vorgetragenen Essay durch längere Prosazellen, die als kleine Lehrgeschichten aufzufassen sind. Ergänzt werden diese Menschen-Fabeln durch jede Menge Anekdoten, aus der schließlich das Hauptgebäude der Literatur errichtet ist. Die vordergründig zur Schau gestellten Texte sind dabei als Ergebnisse von Anekdoten und Kleinerlebnissen zu sehen.

Daraus resultiert auch die These, wonach Franzobel sich durchaus von Elementen der Popkultur und des puren Zeitgeistes beeindrucken lässt. Zu meiner Poetik von allem gehören auch Banalitäten. (73)

Als tragendes Erzählelement erweist sich das Abschweifen von einem Erzählpfad in die Breite, bis das erzählte Netz zu einer Hierarchie von Undurchdringlichkeit verfilzt ist. Vom Hundertsten ins Tausendste zu gehen gilt durchaus als österreichische Tugend, die meist in einem unpolitischen Filz endet. Der Oberösterreicher beispielsweise ist per se unpolitisch. (42)

Nicht weit von der Kunst des Abschweifens ist auch jene der Übertreibung angesiedelt.

Unter Turrinis Zapfen wird in der Szene jene Pointe erzählt, wonach sich der junge Turrini einen Tannenzapfen in die Schwimmhose gesteckt hat, um in der Frauenwelt zu imponieren. Später als Schriftsteller hat er diesen Gestus beibehalten und das Burgtheater und seine dramaturgischen Komparsen tief beeindruckt.

Ziemlich entlarvend wirkt auch die Szene, wonach der Megaseller Robert Schneider (Schlafes Bruder) und Ephraim Kishon am Höhepunkt ihrer Karrieren streiten, wer mehr Millionen gescheffelt hat. Natürlich siegt dabei Kishon. Aber als sie dann auf das Auto zu sprechen kommen, das ihnen der Verlag zur Verfügung gestellt hat, siegt Schlafes Bruder, er darf einen Audi mit der höheren Logo-Zahl fahren als Kishon.

Wenn man ihnen Geld gibt, sind die Schriftsteller genauso korrupt und übergeschnappt wie jede andere Berufsgruppe, warnt der Autor davor, wegen der prekären Lebenssituation mancher Dichter auf deren Moral zu schließen.

Literatur lebt vom Täuschen, Übertreiben und Tricksen. Der erfolgreichste Schriftsteller des Iran ist momentan Stefan Zweig, seit Untergrundautoren diesen Namen angenommen haben, um der Zensur durch das Regime zu entgehen.

Der ruhmreichen Jandl-Dozentur schleudert Franzobel schließlich noch einen eleganten Schlusssatz entgegen: Ich bin meine eigene Literaturgeschichte! (80) – Damit deckt er sich mit der Poetik des Ernst Jandl.

Franzobel: Im Hirnsaal. Norm und Abweichung.
Graz: Droschl 2023. (= Droschl Essay 73). 88 Seiten. EUR 18,-. ISBN 978-3-99059-143-7.
Franzobel, geb. 1967 in Vöcklabruck, lebt in Wien.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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