Helmuth Schönauer bespricht:
Erwin Uhrmann
Zeitalter ohne Bedürfnisse
Roman
Wenn keine Bedürfnisse mehr da sind, hat man sie entweder erfüllt, oder sie sind von sich aus abgehauen und haben die bisherigen Bedürfnisträger entleert zurückgelassen.
Erwin Uhrmann nimmt gleich vom Titel an die Leser in die Pflicht. Er stellt zwar ein Ambiente für Utopie und Dystopie zur Verfügung, die Text-User aber müssen je nach ihren Bedürfnissen sich den Roman selbst ausmalen. Das ist übrigens bei allen Romanen üblich, die nicht ein vorinstalliertes Klischee abhandeln.
Zeitalter ohne Bedürfnisse lässt also ein paar Figuren auftauchen, die wie beim Mensch-ärgere-dich-nicht nach einer gewürfelten Zahl ein paar Schritte machen, ehe sie wieder vom Feld geworfen werden. Das Spielfeld selbst ist seltsam allgemein ins Auge gefasst als eine Landkarte ohne irgendwelche Ortsangaben. Ab und zu fallen geographische Begriffe wie Himmelsrichtungen, beispielsweise Wien, Polen oder Meer, es ist jedoch den Lesern überlassen, wie sehr sie diese Angaben mit eigenen Bildern unterlegen.
Eine zeitlose Gegenwart hat den Kontinent erfasst, die Menschen haben keine Bedürfnisse mehr, es ist ihnen gelungen, das Essen einzustellen, indem sie in den Ausgleich gegangen sind. Wenn die Suche nach Nahrung wegfällt, bleibt für die Menschheit nichts mehr zu tun, weshalb die meisten bedürfnislos in der Stadt herum taumeln, keinen Bock mehr auf Kinder haben, und die anfallenden Verstorbenen möglichst schnell irgendwo zur Endlagerung abschieben.
Als dünner Handlungsstrang, an dem ein nichtiger Überlebenskampf aufgewickelt ist, stellt sich die Aufzucht eines Findelkindes durch die Heldin Silvia vor. Diese findet eines Tages ein Bündel Mensch am Wohnungseingang und adoptiert es spontan, indem sie es Darko nennt. Der Junge wächst ohne Artgenossen, Bildung oder Sinn heran, er saugt das bisschen Welt ein, das ihn umgibt, und pendelt in der Siedlung zwischen Unterwelt und Oberwelt herum.
Zum Zentrum mausert sich dabei der Kerzenmarkt, auf dem es offensichtlich Licht zu kaufen gibt, während das Elektrizitätswerk am Rande der Stadt nichts mehr produziert. Dennoch arbeitet Silvia in diesem Werk weiter vor sich hin, denn ohne Bedürfnisse ist der Output von Leistung obsolet geworden. Am Kerzenmarkt steht offensichtlich eine Kathedrale mit einem Kardinal herum, der keine Erklärung des Weltgeschehens weiß und zu einer Gebetsfigur wird, der man die letzten Sorgen umhängt.
Darko macht sich allmählich selbständig und sucht Bekanntschaft mit den nächstbesten Menschen, die ihm in diesem chaotischen Umwelt-Design über den Weg laufen. Er lässt sich Begriffe und Ansichten von früher erzählen, er hilft mit, zwei Tote durch die Stadt zu tragen und an einem provisorischen Endpunkt abzulegen. Nach einer unruhigen Nacht mit Traum- und Alptraum-Spots macht er sich auf den Weg hinaus aus der Stadt.
In einer Gegend aus Treibsand, brüchigem Ufer und See endet die Tour bedürfnislos. Die Wörter, die über der Szene liegen, scheinen aus einer früheren Zeit zu stammen, als die Welt noch mit einer anderen Semantik hinterlegt gewesen ist.
Darko legte sich in das feine, klebrige Gemisch aus Erde und Sand und überlegte, wie er die drei [Mitabenteurer] überzeugen konnte, zurückzukehren im Wissen um diesen weiten, leeren Raum. Mehr musste er nicht wissen. In der Stadt zu sein, mit den anderen, einfach dahinzuleben. Darin, verstand Darko, lag aller Sinn.“(206)
Die Offenheit der Romankomposition lässt einen bei der Lektüre hinaus driften aus dem Text und andocken an angelesene Muster. So könnte man das Buch als Bildungsroman lesen mit einem Ende aus der Romantik. Als der Held das Nichts sieht, hat er alles gesehen und kann heimkehren.
In einer anderen Aberration lassen sich Katastrophenromane, Kriegsdesaster oder Failed-States-Geschichten andocken. Wenn die Helden des Romans den Hunger abgestellt haben und wortlos durch die lichtlosen Keller einer imaginierten ukrainischen Stadt tappen, wird die Atmosphäre einer kaputten Welt schier unerträglich.
Und weil im Roman ständig ein desaströser Wind (Desert-Wind) weht, liegt es in der Vorstellung nahe, an einen Klima-Roman zu denken, wenn das alles gleichzeitig auf Sendung ist, was momentan noch als Wetterwarnung ausgegeben wird.
Alle Abschweifungen führen dann aber doch zu der interessanten These, wonach es zum Leben keine Bedürfnisse braucht, weil diese bloß Ablenkung sind von der puren Existenz. Auch im Zeitalter der Bedürfnisse gilt die Binsenweisheit der Evolution: Der Mensch lebt so lange, bis er tot ist.
Der Letzte der Menschheit nimmt diese Erfahrung mit ins Grab, während er im Erinnerungsschlamm liegt und ins Leere schaut wie Darko.
Erwin Uhrmann: Zeitalter ohne Bedürfnisse. Roman.
Innsbruck: Limbus 2024. 206 Seiten. EUR 20,-. ISBN 978-3-99039-247-8.
Erwin Uhrmann, geboren 1978, lebt und arbeitet in Wien.
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was du, lieber helmuth, immer alles herausliest. bewundernswert. mich hat das buch enttäuscht. hab nie den faden gefunden. (weils wahrscheinlich auch keinen gibt)…seis drum!