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Helmuth Schönauer
Sex-Wimmelbild
Stichpunkt

Um zu testen, was gesellschaftsfähig ist oder nicht, brauchst du nur ein Bilderbuch über das Thema zu schreiben.

„Johannes geht zur Kommunion“ ist ein durchaus im öffentlichen Diskurs geschätztes Bilderbuch, „Johannes wird abgetrieben“ erfährt hingegen in Tirol weniger Liebkosung, zumal es ja kaum Gelegenheit gibt, das Bilderbuchthema in die Realität umzusetzen. Und schon gar nicht geht: „Johannes nimmt Sterbehilfe.“

Wie radikal die pädagogisch verkleidete Politik ihre Programme umsetzt, konnte man dieser Tage in Ungarn sehen, wo nach einem neuen Gesetz bereits das erste Kinderbuch beschlagnahmt worden ist. Darin küssen sich nämlich zwei Kindsköpfe unter der Regenbogenfahne. Im Paprikaland ist aber jeglicher Hinweis auf Homosexualität in der Kids-Literatur verboten. Da auch in Ungarn, wie überall in der Lesewelt, das Leseverhalten sehr kindlich ist, kommt dieses Kids-Verbot einer totalen Zensur gleich.

In literaturaffinen Kreisen jault man dementsprechend auf. Denn die Literatur lebt einzig und allein von ihrer Fähigkeit, das Undenkbare denkmöglich zu machen und in abgeschirmten Buch-Sätzen auszuprobieren, was in der Öffentlichkeit verpönt oder verboten ist.

Momentan beherrscht das sogenannte Konsonanten-Thema die literarische Szene. Wenn du nicht zumindest ein Bilderbuch über LGBTIQ* zusammenbringst, hast du auf dem Buchmarkt nichts verloren.

Wer mit Kinderbüchern zu tun hat, weiß, dass die Steigerung des Bilderbuchs das Wimmelbuch ist. Dabei sind auf einem einzigen Bild unendlich viele Motive, Begebenheiten und Stellungen abgebildet, sodass man als Erwachsener oft ganze Abende mit dem Kind verbringen muss, um alles zu besprechen, was da in vollem Barock auf der Bettdecke ausgebreitet ist.

Und an Einschlafen ist bei diesen heißen Themen ohnehin nicht zu denken, wenn das Kind etwa das „Wimmelbild mit Basti“ durchgehen will, wo immer noch ein Freund auftaucht und Einlass in die Familie begehrt.

Oft freilich sind Wimmelbilder trotz aller kindgemäßen Darstellung eher für Erwachsene geeignet.

Ein Wimmelbuch über LGBTIQ* ist wahrlich aufregend, zeigt es doch eine ungeahnte Vielfalt von Stellungen, die fast schon an das berühmte „Tirol-Kamasutra“ heranreichen. Während der Erwachsene bei diesem Bilderbuch eine leise Erregung verspürt, schläft das Kind umso schneller ein.

Wie sehr die Literatur vorgeblich Avantgarde ist, zeigt sich daran, dass momentan nur Preise für Migration oder LGBTIQ* vergeben werden. Allein ein Blick auf die Wikipedia-Seite „Literaturjahr 2021“ zeigt, wie konsequent die einmal ausgegebenen Themen im Literaturbetrieb geadelt werden. So kommen selbstverständlich auch die Preisträger des deutschen Buchhandels oder des Bachmann-Lesewettbewerbs aus diesem Themenspektrum, das trotz aller Regenbogenfarben ziemlich eintönige Kost bietet.

Die Entfremdung zwischen der Preisträgerschaft und dem Publikum war schon lange nicht mehr so groß wie in diesem Jahr, wo alle noch etwas benebelt vom Zuhause-Sitzen sind.

Echten Lesern ist das egal, denn für sie gilt der Grundsatz: Wer einen Preis bekommt, entspricht jener Norm, die du beim Lesen ja verlassen willst. Eine kluge Leserin wird daher nie eine Preisträgerin lesen und erspart sich dadurch auch das unsägliche Wimmelbild vom LGBTIQ*.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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