Helmuth Schönauer bespricht:
Peter Paul Wiplinger
"Schachteltexte III"

Damit die Literatur aus dem Leben heraustreten und sich Luft verschaffen kann, braucht es zwei Beobachtungsschlitze: Durch den einen blickt man auf den anstehenden Tag, durch den anderen auf das verflossene Leben.

Peter Paul Wiplinger führt die beiden Suchbewegungen mit seinen Schachteltexten elegant und eindringlich zusammen. Seit fünfzehn Jahren arbeitet er an diesem einmaligen Dokument, wobei auf ausgeklappte und ausgerissene Verpackungsteile mit der Füllfeder Texte komponiert werden. Ein Auge blickt auf den aktuellen Zustand des schreibenden Ichs und das andere setzt sich den historischen Gezeiten von Kindheit bis zur Reife aus.

Im abschließenden dritten Band sind gut zweihundert „Installationen“ ausgeführt. Dabei gibt es auf der rechten Seite, der „Hauptseite“, die Objekte zu sehen, die von Annemarie Susanne Nowak bestens belichtet und betreut sind, auf der linken Seite ist der handschriftliche Text der Objekte in Textblöcke umgeschrieben, damit sich die Archivare mit ihren Suchfunktionen auch in Jahrzehnten noch zurechtfinden.

Für den Leser hat diese Transkription den Vorteil, dass er sich unverstellt mit den Metaebenen beschäftigen kann, während sich das Auge an den flachgelegten Drei-D-Werken ergötzen darf.

Die erste Botschaft dieses Unternehmens liegt in der Materialwahl. Als Kind hat der Autor nach dem Krieg zu Hause im Mühlviertel erlebt, wie die Eltern ein Kleinkaufhaus führten und in ihrer Arbeit die Verpackungen gleich sorgfältig wie den Inhalt behandelten. Zudem ließen sich die Gebinde bestens recyclen. Da es kaum Schreibpapier gab, wurden die anfallenden Gebrauchstexte auf entfalzte Kartons geschrieben.

„Ein Entschachtler // Ein Entschachtler bin ich (gewesen) – jahrelang, / jahrzehntelang, ja lebenslang. Jetzt sehe ich das / selber (ein), weil mich der Dichter und Literaturwissenschaftler Dr. Hammerschmid so genannt hat. // Ein Entschachtlungskünstler bin ich. // Ich entschachtle alles, was eingeschachtelt, / was seiner Freiheit somit und so eingeschachtelt / beraubt ist; ich befreie das Denken / aus und von seiner Norm. // Denkgefängnis | Freiheit | Norm | Kindheit | Schönschrift! // Nichts ist so wie es (er)scheint! // P.P.Wiplinger – Wien 14.4.2020“ (372)

Der zitierte Michael Hammerschmid stellt in seinem Eingangstext das Wesen dieser „Existenztexte“ vor und bringt dabei die Namen Paul Nizon (Autofiktion) und Robert Walser (Mikrogramme) ins Spiel, was die poetische Sichtweise des Alltags betrifft, sowie Erich Fried und Jean Paul Sartre, wenn es um die politische Dimension geht.

Neben den Kartons ist die Füllfeder die zweite Komponente, die ein „existentielles“ Schreiben ermöglicht. In der Füllfeder kommen die zwei entscheidenden Elemente des Schreiblebens zusammen: die nachlassende Feinmotorik des Alters wird durch sie noch lange in Form gehalten, während der übrige Körper vielleicht schon invalid ist. Der Schreibfluss wird durch diese Freundin des Denkens ununterbrochen in Gang gehalten. Wer einmal gelernt hat, damit zu schreiben, wird vom gleichzeitigen Einsetzen des Denkens überrascht sein. Schon mit dem ersten Aufsetzen der Feder setzt das Denken ein. Selbstverständlich wird in „alter“ Rechtschreibung geschrieben, wie man es in Kindertagen gelernt hat. (Ich kenne niemanden, der sich seine Handschrift durch die Gehrer´sche Rechtschreibreform hätte verblöden lassen!)

Das Material produziert auch eigenartige Genres, wenn sich die Tinte um diverse Erhebungen, Verknotungen oder Eindellungen herumarbeiten muss. Im Haustheater wird eine Schachtel neu zusammengefalzt, es entsteht dabei eine Guckkastenbühne, auf der statt der Kulissen Texte aufgezogen sind. Eine Unterlage einer Bonbonniere ist zu einer Konsole umgestaltet, wodurch man Buchstaben zurechtdrücken kann zu ganzen Sätzen. Eine Fastfood-Unterlage gibt nach Verzehr die Schrift frei, Essen ist wertvoll. Erst wer den Brei weggegessen hat, darf ins Paradies der Sätze vordringen.

Löcher im Kartonarrangement ergeben einen ähnlichen Blick wie durch ein Fernrohr. Ein kolorierter Pappbogen kann zu einem Firmament werden, wie es ihn seit Kodaks Zeiten nicht mehr gegeben hat, ein Gebilde ist zu einem Rücken ausgerissen, der durch den Text gekrümmt wird und Öffnungen freigibt, durch welche politische Slogans aufwärts kriechen können.

Unvergesslich ist auch der „Maulaufreisser“ (96), der aus einem einzigen Loch besteht, aus dem nichts mehr an Sinn hervortreten kann.

DAS SKRUF (Kautabak) ist ein Beispiel, wie eine bedruckte Buchstabenkombination ein Gedicht auslösen kann, von dem der Autor vorerst selbst nicht weiß, was es genau bedeutet. (252) An anderer Stelle ist zwar etwas auf Styropor geschrieben, aber der ältliche Duden hat dieses Wort noch nicht verzeichnet. Das Material erweitert also das Sprachmaterial.

Die dritte Ebene, die man durchgehend beachten sollte, ist der jähe Einsatz der Themen, die von der Tagesverfassung zu Notizen diktiert werden. In dieses Genre gehören wohl die Texte über COVID, die seltsam aufgeräumt wirken, ist doch der Lockdown nichts anderes als eine entfaltete leere Schachtel. Anderseits spricht sich das schreibende Ich Mut zu und zählt etwa die Krankheiten auf, die es von Mumps über Mobbing schon überlebt hat.

Sogar die Geburtstage werden zu leichten Gebilden, ich bin 80, heißt es lapidar auf Seite 58, dreihundertzwanzig Seiten später heißt es „81“. (378) Die Seitenzahlen geben indirekt Aufschluss über die Schreibgeschwindigkeit und Tagesverfassung des Autors.

An raren Tagen überrascht sich der „Schachtel-Projektmanager“ mit dem Spiel, „Wörter aufwecken“ (186), der Autor ist schon wach, aber die Wörter schlafen noch, und wenn es dumm hergeht, tauchen neue Wörter auf, die die Verwahrlosung der Welt zeigen. „Black Friday“ (200) ist eine in jeder Hinsicht blamable Entgleisung. Während die Welt zugrunde geht, schlagen sich die Menschen im Kaufrausch die Wänste mit leeren Versprechungen voll.

Das schmerzt beim Lesen, wenn man an die Kindheit des Mühlviertels denkt, wo eine karge Aufbruchstimmung herrschte durch Restlverwertung. Verwertet wurde damals nicht nur alles Materielle, sondern auch die politischen Zugänge zur Welt hat man lange nach dem Krieg noch mit den Parolen der Nazizeit bewältigt, weil die Parolen ja billig hergingen. Warum sollte man einen Slogan wegschmeißen, wenn er schon einmal erfunden war?

Das lyrische Ich berichtet von seinen drei Gymnasien, in die es gesteckt worden ist. Eines lag in Tirol und schneidet naturgemäß nicht gut ab in der Erinnerung. In diesen Gymnasien also wird alles über die Punischen Kriege aufgewärmt, aber nichts von den unmittelbaren Gräuelgeschichten, über die sich noch niemand d´rüber traut.

Das ganz große Lesekino ist freilich in winzigen Sätzen versteckt, einmal heißt es, dass das Traumhaus nicht aufgetaucht ist. Aber vielleicht ist gerade das der vollendete Traum.

„Mein Traumhaus // Mein Traumhaus habe ich nicht erreicht / im Leben, es ist ein unerfüllter Lebens- / traum geblieben. Auch einen Garten / habe ich nicht erreicht. So vieles ging mir / auch daneben. Aber so ist das Leben.“ (314)

Dieser „Bildband“ von den Schachteltexten löst in den Lesern das aus, was Peter Paul Wiplinger ein Leben lang macht: Man liest weiter, obwohl der Text schon aus ist, und „PPW“ hat noch immer die Füllfeder in der Hand, wiewohl der Tag für heute ebenfalls aus ist.

Peter Paul Wiplinger: Schachteltexte III. 2019 – 2020. Abb.
Wien: Löcker 2021. 432 Seiten. EUR 49,-. ISBN 978-3-99098-041-5.

Peter Paul Wiplinger, geb. 1939 in Haslach, Gymnasium in Hall in Tirol, lebt in Wien.

Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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