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Helmuth Schönauer bespricht:
Caroline Wahl
22 Bahnen
Roman
(Innsbruck liest 2024)

Manchmal wird der Literatur ein Programm übergestülpt, das ihre Kundschaft zuerst abarbeiten muss, ehe sie sich dem eigentlichen Text zuwenden darf. So sind es oft Literaturpreise, die vorerst in Marketing-Manier den Text zuschütten, ehe er sich verspätet der Leserschaft erschließt. 

Gerne gesehen ist Literatur auch als Prüfungsstoff, wenn in sadistischer Anwandlung Prüflinge gequält und für die Literatur verloren gemacht werden. Eine Radikal-Methode, ein unwissendes Publikum mit Literatur zu beträufeln, besteht schließlich in diversen Kommunal-Aktionen, wenn etwa die Bewohner einer Stadt mit einem Gratis-Roman beglückt werden. Auch hier steht das Programm vorerst über dem literarischen Text, der als solcher erst freigeschaufelt werden muss.

Caroline Wahl wird gerade als Shooting-Star des vergangenen Jahres ausgerufen und darf als Höhepunkt ihrer jungen Karriere die Einladung für Innsbruck liest 2024 genießen. Mit ihrem Bestseller-Roman 22 Bahnen tourt sie nicht nur durch sämtliche literarische Einrichtungen des Alpenherzens, sondern in 10.000 Exemplaren turnt sie sich auch in die Herzen der Lesenden.

Der Plot des Romans könnte als Musterschicksal einer Innsbrucker Seele gelten. Die Mathematikstudentin Tilda arbeitet prekär als Kassiererin im Supermarkt und schreibt ihre Masterarbeit. Zu Hause ist die Hölle los, wenn ihre zehnjährige Schwester Ida von der betrunkenen Mutter malträtiert wird. Als ritualisierte Überlebenseinrichtung erweist sich das Schwimmbad, in dem die Protagonistin, so oft es geht, ihre 22 Bahnen herunterschwimmt, bis sie in Trance verfällt.

Wenn ich nachts auf meiner Matratze liege, dann denke ich, dass ich das Ganze da draußen noch lange aushalten kann. Solange der Wind nachts auf mich fällt, denke ich, kann ich mich tagsüber in den Krieg da draußen stürzen. Gegen meine Mutter, gegen ihre Launen, gegen diese Kleinstadt. Und für Ida. (15)

Der Roman kümmert sich aus der Ich-Perspektive um das Durchschlängeln zwischen Banalitäten, Alltagsfloskeln und Zufälligkeiten. Die Dialoge sind knapp, dabei werden Standardsätze ohne Überraschung miteinander verknüpft. Es entsteht Sprachlosigkeit, auch wenn ab und zu ein Mund offensteht.

Leitmotivisch taucht regelmäßig der Vorgang des Kassierens auf. Die Heldin darf nicht in die Gesichter der Kunden blicken, damit diese ungeniert ihre Produkte kaufen können. Die einzelnen Artikel werden zu einem Stillleben des Konsums arrangiert, während sie den Scanner überschreiten. Am Schluss wird eine Summe in den Raum gestellt und es gibt einen kurzen Blickkontakt.

Ähnliches geschieht beim Durchpflügen der Bahnen, wenn ab und zu auf den Nebenspuren Körper sich durchs Wasser wälzen, ehe sie außer Atem dem Becken entsteigen und den Tanz mit dem Wasser wortlos beenden.

Zuhause dient das Ritual des Tischdeckens dazu, den Alkohol-Spiegel der Mutter festzustellen. Solange sie die Teller auf den Tisch bringt, glaubt sie an eine vage Zukunft. Läuft das Arrangement aus dem Ruder, wird die Mutter zum Monster, vor dem sich die Töchter wegducken und in ihren Zimmern einsperren.

Diese drei Kampffelder der Heldin sind auch in Innsbruck häufig anzutreffen: Sport, Universität und psychische Entgleisung sind die Begleitmusik für ganze Generationen, die sich letztlich routiniert und wortlos von einem Geschäft zum nächsten schlängeln, um durch irgendeine anstrengende Sportart schließlich in die Bahn zu finden. Da im Roman die Kleinstadt nicht näher beschrieben ist, kann die fiktive Stadt flugs über die Lesestadt Innsbruck gestülpt werden.

Gibt es überhaupt eine Dynamik in Richtung Zukunft, Sinn oder Optimismus?

Im Roman nimmt die Heldin ein Stipendium nach Berlin an, wo sie einen akademischen Titel als Ausweg aus dem Desaster zu erringen erhofft. Ihre zehnjährige Schwester hält sich mit Lesen, Schulwechsel und vorzeitigem Erwachsenwerden über Wasser. Mutter überlebt einen Suizid-Versuch, ist aber nicht imstande, eine Therapie anzugehen, sie setzt auf Aussitzen des Alkoholproblems.

Und die Erzählerin überlebt einen Multi-Kollaps des Körpers durch die Sportfreundschaft mit einem russischen Migranten. Er weiß, dass man auf jeder Bahn seine Meter machen muss, wenn man einmal ins Wasser geworfen ist. Der Rest ist Schweigen während einer akademischen Umarmung.

Caroline Wahl liefert mit ihren 22 Bahnen ein fast wortloses Stück Kleinstadtleben auf dem Weg zum Überleben. Der Roman passt wunderbar ins Konzept von Innsbruck liest, das immerhin ins zwanzigste Jahr geht. Die Lektüre verschafft eine kleine Atempause beim sinnlosen Sporteln, Studieren oder Konsumieren. Und während man über den Roman diskutiert, spendet er auch passende Wörter voller Ironie und Schalk für das Leben in dieser Kleinstadt.

Caroline Wahl: 22 Bahnen. Roman. ( = Innsbruck liest 2024). Köln: DuMont 2023. 204 Seiten. EUR 22,70. ISBN 978-3-8321-6803-2.
Caroline Wahl, geb. 1995 in Mainz, lebt in Rostock.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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