Helmuth Schönauer
Der Rattenorden
Short Story
„Ist das Auftauchen eines Wasserwerfers für Sie eine Überraschung oder haben Sie insgeheim damit gerechnet?“ Den regionalen Fernsehredakteuren muss man eines lassen, sie saugen aus dem flachsten Non-Ereignis noch etwas heraus.
Der angesprochene Wortspender steht mit einem Dutzend Demonstranten vor dem Landhaus und antwortet, wie es sich in einem Land mit absoluter Mehrheit gehört: „Ich weiß es nicht.“
Später wird auch noch der Initiator der Demonstration zu einer Äußerung angehalten. Es ist eine Frau und muss daher widerwillig im Insert als Organisatorin bezeichnet werden. „Ich bin froh, dass der Wasserwerfer gekommen ist, jetzt ist es eine echte Demonstration“, sagt sie. Der Regionaljournalist fragt nach, worum es gehe. Endlich die Standardantwort: „Ich weiß es nicht.“
Der Autor dieser Short Story ist ein pensionierter Bibliothekar und muss wieder eine Geschichte basteln. Mit seinen Kindern hat er ausgemacht, dass sie ihn so lange in der Wohnung weiterleben lassen, solange er sich halbwegs logische Shortstories ausdenkt. Wenn er Faxen macht oder unverständliches Zeug nach österreichischer Machart fabriziert, wird er ins Altersheim überstellt. Dort kann er Gedichte schreiben, bis er tot aus dem Bett fällt.
Die Angst vor dem Altersheim hat den Bibliothekar schon vor Jahren eine Freundschaft mit einem Tierlyriker aufbauen lassen. Wenn du im Altersheim nämlich deine Freunde verlierst, dann ist es besser, du hast nur mäßig gute Bekannte, die du in der bisherigen Welt zurücklassen musst. Es tut nicht so weh, wenn man ein Arschloch verliert, während man im Ausgedinge in der eigenen Isolation versickert.
Nun ist der Tierlyriker aber keineswegs ein Arschloch. Ursprünglich hat er wie jeder Dichterdilettant Gedichte für Menschen geschrieben. Das ist ihm aber nicht gut bekommen. Auf Facebook wollten sie, dass er verschiedene Wörter streicht und gewisse Verse aus dem Netz nimmt. Am Schluss hat man ihm gesagt, dass seine Lyrik nicht menschenwürdig ist. „Da habe ich eben das Genre gewechselt und mache jetzt Texte für allerlei Tiersorten, die sind auf jeden Fall dankbar und garantiert nicht auf Facebook.“
Wer Literatur macht, muss zuerst einen Preis dafür schaffen, ehe er dann Texte dazu produziert. Der Tierlyriker hat den sogenannte Rattenorden installiert. Er wird einmal im Jahr im August überreicht. Vorbild für die alpine Variante ist „Magwa“, eine für die Landminensuche ausgebildete afrikanische Beutelratte. Sie wirkte in Kambodscha und spürte sage und schreibe 39 Landminen auf und entdeckte 28 nicht explodierte Sprengkörper. Ihr Einsatz und der weiterer ausgebildeter Artgenossen hat das Leben vieler Einwohner Kambodschas verändert.
Die Auszeichnung ‒ eine kleine Goldmedaille an einem blauen Band ‒ ist vergleichbar mit dem Georgs-Kreuz und wurde für den besten alpinen Tierlyriker adaptiert, der freilich vor der Preisverleihung noch gegendert werden muss. Warum habe ich noch nie etwas davon erfahren?, fragt der Bibliothekar.
Weil wir nur Tiere einladen.
Mit diesem Einzeiler ist das Gespräch beendet, denn die Beziehung soll nicht zu intensiv werden, damit man jederzeit ins Altersheim gehen kann. Der tiefere Grund für die seltsame Freundschaft liegt allerdings in den Wohnungen der beiden. Der Bibliothekar und der Vater des Tierlyrikers haben idente Räumlichkeiten in nebeneinander liegenden Wohnblocks. Der Vater ist Zahnarzt und beklagt sich, dass die Leute ständig zu ihm kommen und um einen Bibliothekstermin bitten, wo er doch schon mit seinen Zähnen ein volles Programm fährt.
Umgekehrt läutet fast niemand beim Bibliothekar, um sich fälschlicherweise die Zähne reißen zu lassen. Das macht in der Tat nur der Gebiss-Spezialist, der ebenfalls in einem Alter ist, in dem er jeden Tag ins Altersheim kommen könnte. Manchmal fehlt er wochenlang in der eigenen Ordination und draußen rennen seine Klienten zahnlos unter der Maske herum, weil er die Prothese nicht fertig bringt, die sie schon bestellt und ausgemessen haben. Wenn du in dieser Gegend einen Menschen mit schlechter Aussprache triffst, ist es todsicher einer von der Zahnwerkstätte im Nachbarhaus, der noch nicht fertig ist.
Der Tierlyriker leidet natürlich unter seinem Vater, der die Menschen oft verunstaltet. Hoffentlich leiden meine Kinder nicht unter meinen Short Storys, denkt sich der Bibliothekar, aber ich verschönere ja die Welt damit. Recht viel mehr darf er nicht schreiben, sonst schicken sie den Zahnarzt prophylaktisch ins Altersheim, um den Amtsvorgang zu testen, der dem Bibliothekar bevorsteht.
Eine gute Geschichte hat übrigens ein Ende, das sich beliebig oft wiederholen kann. Jedes mal, wenn sich die beiden Helden treffen, verabschieden sie sich in inniger Weise.
Schau auf deine Tiere!
Ja du, schau auf deine Bücher!