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Helmuth Schönauer bespricht:
Boris Schumatsky
Die Trotzigen
Roman
Böse ist gut.
Essay mit Link

Wann ist ein Text wirklich gut? – Wenn man es in der Lesehaut nicht mehr aushält und die nächstbeste Person anrufen und treffen muss, um darüber zu reden.

Boris Schumatsky führt in seinem Essay Böse ist gut seine eigenen Recherchen als Journalist im ersten Tschetschenienkrieg mit den grotesken Ausschweifungen seiner Helden aus dem Roman Die Trotzigen (2016) zusammen. Was entsteht, ist ein Pandämonium purer Gewalt.

Böse ist gut liefert nicht nur eine brutale Erklärung für den Überfall Russlands auf die Ukraine, der Essay zeigt auch, dass manche Erkenntnisse nur durch Literatur vermittelt werden können.

Mittlerweile laufen alle Genres auf Hochtouren, um die Zeitenwende zu beschreiben, die im Februar 2022 durch den Putinschen Überfall ausgelöst worden ist. Dem Genre Essay kommt dabei eine besondere Bedeutung zu, weil es kraft seiner Erkenntnismobilität durchaus den Fokus seiner Ausleuchtung verändern kann und somit stets scharfe Bilder liefert.

Das Besondere im Falle von Böse ist gut ist der Blickwinkel des Ich-Erzählers. Das Schlüsselerlebnis des Beschreibenden ist ein Massengrab in Grosny, wo dem filmenden Journalisten klar wird, dass es sich hier nicht um einen Konflikt im Sinne von geopolitischen Auseinandersetzungen handelt, sondern um sichtbare Auswüchse eines unsichtbaren Gewaltsystems. Vom Präsidenten abwärts huldigt die russische Gesellschaft täglich Unterwerfungsritualen, wie wir sie aus schlechten Narko-Filmen Südamerikas kennen.

– Der Schüler muss in der Pause zum nächstbesten Mitschüler gehen, und ihn unterwerfen, tut er es nicht, wird er selbst zum Opfer, wo immer er auch in Zukunft auftreten wird.

– Die Sorge des Erzählers, als er zur Armee eingezogen wird, ist nicht der Einsatz im Krieg, sondern dass er den normalen Kasernenbetrieb nicht überleben wird.

– Die Familie schließlich ist landesweit geprägt von zynischer Duldung der Gewalt. Als eine vom Mann geschlagene Frau auf der Polizeistation das Verbrechen anzeigen will, wird sie aufgefordert, wiederzukommen, wenn sie tot ist.

Nicht umsonst fasst Putin am Vorabend der Invasion diese russische Universalstimmung mit einem Volkslied zusammen, indem er die zwei letzten Zeilen dieses russischen Volksreims an die Ukraine richtet:

Meine Liebste liegt im Sarg, / ich mach mich an sie ran, ich fick sie. / Ob’s dir Spaß macht oder nicht, / Füg’ dich, meine Schöne.

Boris Schumatsky beschreibt diese Unterwerfungskultur aus der Sicht eines Individuums, das erkannt hat, dass es nur einen Ausweg gibt: Nämlich sich dem Anpöbler zu stellen! Erst wenn dieser kapiert, dass man nicht klein beigibt, sondern vielmehr keine Angst vor Schmerzen, ja sogar vor dem Tod hat, zieht der Aggressor weiter.

Aus dieser Erzählhaltung heraus folgt ein eindringlicher Appell an die sogenannten Friedensdemonstranten, das sogenannte wohlwollende Verstehen des Aggressors zu relativieren. Genau jene, die jetzt mit der Friedenstaube in der Hand auf öffentlichen Plätzen stehen, werden demnächst in einer öffentlichen Grube wie in Grosny liegen, wenn sie sich weiterhin demonstrativ unterwerfen.

Schon kleinen Kindern wird im gewalttätigen Russland beigebracht, beim Spielen so richtig böse zu sein. Diese Kultur ist durchtränkt von Faschismus, Gewalt und Konnotationen zum Bandenkrieg.

Die Musik in den Taxis ist Gangsta-Musik, jedes Armaturenbrett ist zudem mit einer Dashcam ausgestattet, bei Verkehrsunfällen gibt es nämlich keine Zeugen, nur Schmiergeld und geheime Aufzeichnungen.

Boris Schumatsky stellt seinen Essay gratis online zur Verfügung, es ist purer Gangsta-Text, der sich hier ungeschminkt zeigt. Wer ein wenig mehr literarische Verbrämung braucht, sei auf seinen Roman Die Trotzigen (2016) verwiesen. Darin versuchen die Helden jener Generation, die zwischen dem Verblassen der Sowjetunion und dem aufkeimenden Würgegriff Putins eingekeilt ist, das Leben zu meistern, indem sie sich grotesk-maniriert benehmen. Aber das System ist mindestens so vif wie die Trotzigen, sodass diesen letztlich nichts anderes übrigbleibt, als auszuwandern.

Literatur in den Händen eines Aufklärers, wie Boris Schumatsky einer ist, vermag die Herzen der Lesenden so aufzuwühlen, dass sie den nächstbesten Literaturmenschen anrufen, um mit ihm darüber zu reden.


Boris Schumatsky: Böse ist gut. Essay.
Zürich: Neue Zürcher Zeitung, 11. März 2023.
Online auf der Homepage des Autors:
https://www.schumatsky.de/das-russische-der-gewalt/

Boris Schumatsky: Die Trotzigen. Roman.
Berlin: Blumenbar 2016. 384 Seiten. EUR 20,-. ISBN 978-3-351-05029-0.
Boris Schumatsky, geb. 1965 in Moskau, lebt in Berlin.

Helmuth Schönauer 08/05/22


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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Hans Pöham

    Schon Ihre Rezension wühlt mich derart auf, dass ich ins Laufen komme. Danke!

  2. Danke für Rezension und den Tipp.
    Dieser Essay, der die den Russen immanente „Gewaltsprache“ schildert, deckt sich zu hundert Prozent mit den Schilderungen und Einschätzungen von Michail Chodorkowski aus dem „Lager“ und dem Banditen Putin.
    Ich hege nicht die Hoffnung, dass dieser knallharte und aufwühlende Essay irgendeine der „Friedenstauben“, sei es Precht, sei es Schwarzer, Welzer oder Wagenknecht und Konsorten, dazu bewegen wird, ihr dummes Geschwätz einzustellen.
    Lese ihn, wer lesen kann.

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