Diethard Sanders
Keine Zeit!
Oder:
Feldforschung zur Bar
Essay
Zumindest laut Kalender ist es inzwischen Herbst geworden. Die besinnlichste Zeit des Jahres wirft bereits ihre Schatten voraus, die nächste Corona-Welle bahnt sich an und nach den vielen realen oder eingebildeten Abenteuern, die man im Sommer überstanden hat, drängt es einen, sozial zu sein, es drängt, sich auszutauschen. . . Dem steht allerdings ein kleines Hindernis entgegen!
Kennen Sie das auch? Sie rufen in einer spontanen sozialen Regung eine gute Bekannte oder einen Bekannten an, um sich am späten Nachmittag oder frühen Abend desselben Tages (sagen wir, es ist Dienstag) auf ein Plauderstündchen zu treffen.
Nicht, dass etwas Großartiges zu besprechen wäre, sondern es soll einfach ein informelles Treffen, wie das heute heißt, unter Freunden werden. Sie haben Glück, die Bekannte (bleiben wir bei einer Frau) nimmt das Gespräch an.
Schnell stellt sich heraus, dass sie heute spät nachmittags und abends verhindert ist. Geht nicht, keine Zeit. Macht nix, dann eben morgen. Nein, geht auch nicht. Die Bekannte macht nun ihrerseits einen Vorschlag: nächste Woche Donnerstag 18 Uhr. Geht das nicht doch etwas früher? Ihr Einwand. Nein, geht nicht früher. Widerwillig lassen Sie sich darauf ein. Na schön, dann nächste Woche Donnerstags Abend.
Leider ist nun die ganze Spontaneität draußen und das Treffen mit ihrer Bekannten ist zu einem Termin verkommen. Schon im Vorfeld schade. Ihre Bekannte ist weder eine Spitzenpolitikerin noch im Leistungssport oder im hochrangigen Management tätig, und hat, soweit Sie das überblicken, einen recht normalen Job. Sie wohnt auch in derselben Stadt. Man rätselt: woher mag eine derartige zeitliche Auslastung wohl kommen?
Sie vergleichen das mit sich selbst. Sie wären von Dienstag dieser Woche bis Donnerstag der nächsten Woche mit einer einzigen Ausnahme (Samstag) jeden Abend verfügbar. Zweifel machen sich breit. Bin ich am Ende ein Sozialkrüppel? Warum habe ich so wenige Termine, vor allem abends nach Arbeitsschluss? Bin ich etwa unbeliebt?
Dabei stellte diese imaginäre Bekannte noch einen einfach gelagerten Fall dar. Denn sie hatte wenigstens nur kurz und knapp festgestellt, sie hätte vor Donnerstag keine Zeit und es dabei belassen. Was keine Selbstverständlichkeit ist, denn in Zeiten wie diesen gibt es durchaus entnervendere Arten und Weisen, keine Zeit zu haben.
Eine besonders widerwärtige Spezies ist der Terminkalender-Konsultierer. Ich wähle hier zum Zwecke der Darstellung einen Mann, weil mir aus Erfahrung scheinen will, dass die folgende Verhaltensweise insgesamt eher bei Männern vorzufinden ist. Also: Man ruft an, und nach angeregtem Gespräch schlägt man einen Termin vor und los geht’s.
Warte kurz, da muss ich nachschauen, so seine Instruktion. Dann hört man Rascheln von Papier und Klicken der Maus, unterlegt mit halblaut gemurmelten Worten. Das Ganze geht eine gute Weile, bis man sich zu fragen getraut:
Und, was gefunden?
Erst mal keine Reaktion, weiteres Rascheln, Murmeln und Klicken und endlich das Fazit: Im April hätte ich was frei! Es ist Anfang März. Man bedankt sich höflich für die aufreibende Terminsuche.
Ich hoffe, ich kann die Verabredung halten, legt ihr Freund gleich nach, und es befällt Sie eine Ahnung. Aus Erfahrung leiten Sie die Beendigung des Gespräches ein: Weißt du was? – du rufst mich einfach wieder an, wenn sich bei dir alles geklärt hat, OK?
Ja, das wäre wohl das Beste, so befindet auch er, und sie trennen sich in bestem Einvernehmen. Man bleibt etwas verwundert zurück. Soweit Sie wissen, hat auch dieser Bekannte keinen Job, der ihm im Verlaufe mehrerer Wochen nicht einen kurzen Treff am frühen Abend gestatten würde. Worum geht es bei diesem Ritual also?
Ich hatte früher mal einen Bekannten, mit dem ich mich an und für sich sehr gut verstand, der aber genau diese Unart nie los wurde. Und wenn ich dann nach mehrwöchiger Wartezeit schließlich im vereinbarten Lokal erschienen war, tauchte er mindestens eine Stunde zu spät auf. Nach etlichen Wiederholungen dieses Schemas beschloss ich, dass ich eigentlich auch total viel zu tun habe und zudem auch höchst wichtig bin, und habe folgerichtig den Kontakt mit ihm abgebrochen. Einzig aus diesem Grund.
Folgt eine eher weibliche Version des keine Zeit Habens, zumindest, was auch hier meine Erfahrungen angeht. Man ruft also seine liebe alte Bekannte an. Sie ist hocherfreut, man plaudert angeregt und beschließt, sich baldmöglichst zu treffen. Heute Abend geht es aber leider nicht. Nun, dann morgen oder übermorgen, schlägt man fröhlich vor, doch so einfach scheinen die Dinge nicht gelagert zu sein.
Weißt du, ich kann das momentan nicht so sicher sagen, so ihr etwas nebulöses Bekenntnis, könntest du mich am Donnerstag so gegen Mittag nochmals anrufen?
Man verspricht es. Nach mehreren erfolglosen Anruf-Versuchen (sie hatte ja auch gesagt: gegen Mittag) hat man schließlich Glück, doch leider stellt sich heraus, dass Donnerstags Mittag die Lage noch nicht viel klarer als am Dienstag ist.
Bist du ein ganz Lieber und rufst mich am Montag ab zehn nochmal an? Es tut mir ja so leid!
Aber klar ist man ein ganz Lieber. Sicherheitshalber trägt man sich jedoch den vorgeschlagenen Anruf-Termin im Kalender ein, denn es könnte sein, dass man das bis dahin ganz einfach vergisst. Am Montag dann der Anruf. Sie ist erreichbar und pflichtschuldig zerknirscht:
Du, bei mir schwimmt derzeit alles, so die bildliche Beschreibung ihres beruflichen?/privaten? Zustandes, die wohl zum Ausdruck bringen soll, dass auch das mögliche Treffen irgendwo im Fluidum des rein Potentiellen herumdümpelt. Der kluge Mann sagt dann folgendes: Weißt du was? – du rufst mich einfach wieder an, wenn sich bei dir alles geklärt hat, OK?
Ja, das ist eine Super-Idee, so befindet sie auch. Es geht eben nichts über gute alte Freundschaften. Und jetzt weiß man auch, weshalb neben anderen hehren Begehrlichkeiten wie etwa Kreativität die Spontaneität einer jener Wünsche ist, die wir vergeblich beschwören.
Wer die Freuden der Elternschaft genießt, kennt vermutlich noch eine weitere Spielart des chronischen Zeitmangels. Äußerlich lässt sich diese Variante bisweilen ähnlich wie die vordem geschilderte an. Da sehnt sich also das elterliche Herz danach, sich wieder einmal mit dem Sohn oder der Tochter, der oder die schon außer Haus lebt, zu treffen, und man greift zum Handy und wählt die Nummer, doch der Anruf wird nicht angenommen. Wird wohl grade beschäftigt sein, denkt man sich. Eine Stunde später versucht man es wieder, wieder kein Erfolg. Am Abend: kein Erfolg. Auch kein Rückruf. Wenigstens zurück gerufen könnte man werden, stellt man etwas vergrault fest und beschließt, weitere Versuche zur Kontaktaufnahme erst Mal einzustellen.
Am übernächsten Tag dann um 10.25 ante meridiem der Rückruf.
Hallo Papa, so der Sohnemann, ich bin grad in der Nähe und könnte einen Sprung bei dir vorbeischauen. Hast du Zeit?
Natürlich hat man grade keine Zeit.
Du, ich muss in fünf Minuten in eine Besprechung, die dauert mindestens bis 12. Ginge es dann noch?
Nein, der Sohn, so lange kann ich nicht warten.
Gut, dann heute Abend nach sechs? Wir könnten was essen gehen, so der eigene Vorschlag.
Äh. . . heut‘ Abend . . . nein, schaut schlecht aus, die Antwort.
Na dann morgen Abend, oder übermorgen. . . sag einfach, wann es dir geht, so spricht das langmütige Vaterherz.
Darauf der Sohn: Es ist schwierig. . . ich kann noch nicht sagen, wie sich die folgenden Tage gestalten werden. . . außerdem hab ich am Samstag einen GIG, und wir wissen immer noch nicht, ob die Kollegen vom Rhythmuskollektiv Berlin nun dabei sein können oder nicht. . . . das ganze Programm hängt immer noch irgendwo im outer space. . . ich muss ständig auf Abruf bleiben. . .
Angesichts solcher Unbill muss man natürlich Verständnis zeigen: Weißt du was? – du rufst mich einfach wieder an, wenn sich bei dir alles geklärt hat, OK?
Das ist eine gute Idee, findet auch der Sohn, und man beendet das Gespräch.
Aber auch Eltern sind nicht völlig aus der Welt gefallen und wissen oder ahnen wenigstens, worum es beim so drückenden Zeitmangel der Jugend im Grunde geht: man könnte ja etwas verpassen, während man sich ein steak sirloin reinstopft und Papis gute Ratschläge an sich abperlen lässt. Man könnte aber auch bei Treffen untereinander etwas verpassen, nämlich ein noch geileres Treffen, und so scheint die juvenile Terminlandschaft etwas schwer Absehbares, höchst Fluides zu sein mit dem nicht seltenen Ende, dass von vielen Optionen, die man für einen einzigen Abend gehabt hätte und deren verbindliche Zusage man sich bis zum letzten Augenblick aufheben wollte, nichts verbleibt als viele Anrufe und Gegenanrufe und schließlich das Stranden in irgendeinem Lokal mit irgendwelchen Leuten, die man eigentlich gar nicht treffen wollte. . . und der buddy, der gesagt hat, dass er so gegen 10 Uhr abends auftauchen wird, kommt auch nicht. . . wahrscheinlich treibt sich der jetzt auf einer geilen Party rum.
Wir haben nun also vier Spielarten des Keine-Zeit-Habens kennengelernt, (1) die schlichte kurze Herangehensweise, (2) das egozentrische Vorschieben des Terminkalenders, (3) die geheimnisvolle Verschwommenheit sämtlicher Lebensangelegenheiten, sowie (4) das ständige Aufrechterhalten aller möglichen Optionen, vor allem bei jüngeren Leuten, daher kurz optionitis praecox genannt.
Natürlich kann man diese Grunddisziplinen im Keine-Zeit-Haben miteinander auch mehr oder weniger frei kombinieren. Auch Altersgrenzen gibt es keine. Es spricht zum Beispiel nichts dagegen, dass sich aktive junggebliebene Senioren in Optionitis versuchen, umso mehr, als dass sie diese Möglichkeit zur Zerstreuung in ihrer Jugend noch gar nicht hatten.
Nun möchte man vielleicht meinen, dies also sei das triste Schicksal der Menschheit, trotzdem sie über mehr Kommunikationsmittel verfügt denn jemals zuvor in ihrer vermurksten Geschichte, dass ein Jeder und Jede in quälender Einsamkeit zu verharren hat, weil sich einfach niemand mehr findet, der Zeit hat.
Doch es gibt ein Volk, das zuerst ein Reich erschaffen hat, dessen Ruhm erstrahlte über die Jahrhunderte (frei nach Ovid) und später dann von anno 476 bis 1806 zumindest als Idee vom Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation dieses viel zu komplizierte Europa so halbwegs zusammen pappte. Weil das aber nicht gereicht hat, hat dieses selbe Volk dann auch noch die Renaissance ins Leben gerufen. Jetzt würde man meinen, das genügt, und eigentlich könnten sich diese Leute nun bequem zurücklehnen und sagen: So, jetzt macht mal ihr!
Doch dieses Volkes Findigkeit war damit noch immer nicht erschöpft und sie erfanden einen Ort, den es eigentlich gar nicht geben dürfte, denn jeder, der ihn aufsucht, hat Zeit, und sei es nur ein kleines Bisschen, was er dadurch beweist, dass er an eben jenem Ort ist: Es ist die Bar.
Die originale unkopierbare Bar gibt es ausschließlich in Italien. Es gibt sie zahllos von den Groß-Städten bis hin zu den stadtartig verdichteten Dörfchen, die für dieses Land so typisch sind. Zumindest eine Bar gibt es immer und auch in den abgelegensten Gemeinden zwischen schroff ragenden Bergen. Hat die Bar in Großstädten oft die Rolle eines Treffs nur für das jeweilige Stadtviertel oder ein paar Straßenzüge, so ist sie in den Stadt-Dörfchen der eine unbestrittene Brennpunkt des sozialen Alltags-Lebens.
Phrasen wie keine Zeit oder Treffen wir uns in drei Wochen mal vernimmt man weder in der großstädtischen noch der dörflichen Bar, und zwar ganz einfach deshalb, weil sie irrelevant sind. Für einen kurzen Besuch in der Bar findet sich immer ein Weilchen. Das gilt aber nur für Italien. Es wäre übrigens höchste Zeit, eine gründliche Kulturgeschichte der italienischen Bar zu verfassen.
Ein besonderes Element in echten, also italienischen Bars sind fast stets männliche Senioren, die an einem der wenigen kleinen Tischchen sitzen, die zumeist gegenüber dem Tresen aufgestellt sind. Wenn man die Bar betritt, bemerkt man sie als ungeübter Ausländer vorerst kaum. Sie sitzen einfach still da oder lesen aufmerksam in der fast hektargroßen, auf rosarotem Papier gedruckten Gazzetta dello Sport.
Am Tresen unterhalten sich zwei Männer in mittleren Jahren lebhaft. Der eine trägt eine Arbeitsmontur, die mit Spritzern von Kalkmörtel bekleckert ist. Und an seinen muskulösen Pranken, den gemessenen, etwas müde erscheinenden Bewegungen, und der eher sparsamen Gestik erkennt man den Mann, der harte körperliche Arbeit gewohnt ist. Der andere dagegen trägt ein geschmackvolles Sakko sowie Kravatte, redet pointierter als der andere, und gestikuliert zwar nicht heftig, aber lebhaft vor allem mit den Händen.
Sie reden wie alte Bekannte, die sich vielleicht schon seit Kindertagen kennen. Die Zeit verrinnt. Sie unterhalten sich, gelegentlich betritt jemand vorübergehend die Bar, wie etwa eine Mutter, die für ihr Kind eine kleine Süßigkeit kauft, oder ein weiterer Stadtdorf-Bewohner, der die beiden anderen kurz grüßt, aber ohne sich weiter an der Konversation zu beteiligen seinen Espresso schlürft und dann wieder geht.
Schließlich sagt der Arbeiter mit den Mörtelspritzern etwas, und plötzlich wird es in einem Winkel lebendig: ein Alter, der bisher still und unbemerkt an einem Tischchen gesessen war, macht mit lauter Stimme eine Meldung. Natürlich im jeweils örtlichen Dialekt, den man nicht versteht.
Beide, der Arbeiter wie der Beschlipste drehen sich zu ihm um und sagen etwas. Es entspinnt sich eine kurze Diskussion zwischen Tresen und Tischchen, bis sich plötzlich noch ein alter Herr regt, der – bisher optisch völlig mit seinem Hintergrund verschmolzen – an einem anderen Tischchen sitzt. Kurz werden einige Sätze gewechselt, bevor sich die alten Herren brummelnd aus der Konversation zurückziehen und das Feld wieder den Jüngeren überlassen. . .
Ich denke ernsthaft darüber nach, in meinem Ruhestand im Milieu stadtdörfischer italienischer Bars ausgiebige Feldforschungen anzustellen, für die ich dann vor allem eines haben werde – Zeit.
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