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Ronald Weinberger
Nichts für ungut
Essay

Das Nichts müsste insbesondere für Gläubige im Grunde etwas Erhabenes bedeuten, heißt es doch etwa im Christentum, Gott habe die Welt aus dem Nichts erschaffen. Damit scheint das Nichts bereits definiert, nämlich als die Abwesenheit von etwas Seiendem. So einfach macht es uns das Nichts indes nicht.

Im alltäglichen Sprachgebrauch ist das Nichts oder nichts ein nicht oder selten positiv besetzter Ausdruck, nicht wahr? Denken wir etwa daran, dass ein Nichts und Niemand eine gänzlich unbedeutende Person sein dürfte beziehungsweise ist; schlimmer noch sind, da offenkundig schädlich, die Nichtsnutze. Oder führen wir uns die diversen …nichtse vor Augen, die sich zahlreich in der Menschheit tummeln. Das sind die Taugenichtse, die Habenichtse, die – da fällt mir gerade als eigene Wortschöpfung ein – Denknichtse. Das sind alles keine Nicht(s)igkeiten!

Man vernimmt, besser gesagt vernahm, von Zeit zu Zeit zudem die dreisten Sprüchlein, wie Wer nichts hat und wer nichts kann, geht zur Post oder Eisenbahn; was mir als Eisenbahnerkind immer sauer aufgestoßen ist; oder der Spruch Wer nichts wird, wird Wirt, mit dem immerhin ein gewichtiger, wertvoller Berufsstand diskriminiert wird.

Nichtsdestotrotz wäre aber, um das Ganze wieder mit mehr Positivem aufzufetten, auch zu erwähnen, dass im Gegensatz zum Nichtskönner ein Nichtskenner, genauer ein Nichts-Kenner, eigentlich ein Experte in Sachen Nichts sein müsste. 

Letztere findet man bei den Philosophen (keine Sorge, Sie werden jetzt nicht mit philosophischen Definitionen und Beschreibungen traktiert), bei den Physikern und bei uns Astronomen.

Womit ich auch bereits die paar hoffentlich nicht allzu sehr nichtssagenden ersten Absätze beschließe, denn wir wollen uns nun dem Nichts ausführlich und mit angemessenem Ernst zuwenden. Halten wir’s demnach ab nun für nicht eben wenige Zeilen mit Shakespeare und machen wir Much ado about nothing, also Viel Lärm um nichts.

Das Nichts der Philosophie wäre also schon erwähnt. Es ist das einzige echte Nichts. Obwohl: Wir behandel(te)n doch jetzt, im eben abgeschlossenen Satz, das Philosophie-Nichts. Wäre denn ein ganz echtes Nichts nicht nur dasjenige Nichts, von dem man weder redet noch daran denkt? Und zwar niemand davon redet, daran denkt oder jemals daran gedacht, geschrieben und geredet hat? Ist irgendwie einleuchtend. Wir folgern: Selbst bei den echten Nichtsen gibt es Abstufungen.

Wie angenehm erscheinen da die physikalischen Nichtse! Hoffentlich führen Vertreter von der Astronomie verwandten Fachrichtungen sich diesen Artikel bloß nicht zu Gemüte; denn wie schnell könnte ein Kollege aus der Physik beleidigt sein, falls er den Ausdruck physikalisches Nichts auf Personen, womöglich sogar auf die eigene bezieht. Ich stehe aber dennoch dazu: Es existieren sicherlich auch physikalische Nichtse in Form von physischen Personen mit akademischem Abschluss, von denen aber nicht weiter die Rede sein wird. Zurück: Von vergleichsweise angenehmer Beschaffenheit, schrieb ich soeben, erscheinen echte physikalische Nichtse.

Stellen Sie sich Folgendes vor: Es gäbe eine Kammer, sagen wir so groß wie ein durchschnittliches Zimmer, mit nichts als einer weiten Sichtluke, durch die in die Kammer hineinzugucken Sie das Privileg genießen. Der Kammer möge es gänzlich an irgendwelchen Einrichtungsgegenständen mangeln, aber sie sei mit einem farbigen Gas gefüllt. Sie wird nun mit einer extrem leistungsfähigen Vakuumpumpe leer gepumpt. Nehmen wir sogar an, die Pumpe sei – so ein Gerät existiert längst noch nicht – derart leistungsfähig, dass sie jedes Gasteilchen aus der Kammer entfernen konnte.

Jetzt werden Sie von jemandem gebeten, zu beschreiben, was Sie in der Kammer, außer deren Begrenzungsflächen versteht sich, wahrzunehmen vermögen. Was wird Ihre Antwort sein: Nichts! 

Der Fragesteller möge aber ein besonders lästiger Zeitgenosse, etwa ein physikalisch bestens ausgebildeter Journalist (es ist mir klar, ich schreibe im zweiten Satzteil von einer vollends irrealen Person) sein, der Ihnen sagt oder aufträgt: Nein, denken Sie nochmals nach, denn Ihre Antwort ist falsch!

Dann werden Sie Ihre interneuronalen Synapsen zum Glühen bringen und wahrscheinlich – meine Leserschaft besteht schließlich aus geistig ungemein regen Damen und Herren – in einem Anflug von Aha-Erlebnis sagen: Licht ist in der Kammer, denn sonst könnten wir den Raum innen ja gar nicht sehen! Er ist in gewissem Sinne erfüllt mit Licht, das von den Wänden, der Decke und dem Boden reflektiert wird! Also nichts mit einem physikalischen Nichts, denn auch mit einem entsprechenden physikalischen Messgerät, einem Photometer, könnte man das Licht nachweisen.

Treiben wir folglich unser Gedankenexperiment munter weiter. Wir denken uns bei der Kammer auch die Sichtluke weg, durch die Licht in dieselbe eingefallen war. Das Gas ist vollständig weg, das Licht ist weg. Was befindet sich in der Kammer, werter Leser (Leserinnen sind selbstredend mitgemeint!)? Nichts? Wirklich? 

Sie werden doch hoffentlich schon von Neutrinos gelesen haben: Billionenfach werden wir, ständig, durchsiebt: Von den Neutrinos, die beinahe alldurchdringend sind und von den Begrenzungen der Kammer, und wären es 10 Meter dicke Bleipanzerungen, so gut wie nicht abgehalten werden können.

In anderen Worten: Die Kammer ist übervoll von Neutrinos und, erheblichen technischen Aufwand vorausgesetzt, könnten zumindest einige von ihnen durch eine physikalische Messapparatur nachgewiesen werden. Es existiert – und das auf lange Sicht, womöglich für immer – keine Methode, auch keine derzeit einigermaßen vorstellbare Methode, die Kammer gegen das Eindringen von Neutrinos abzuschirmen. Von wegen angenehm vorstellbarem physikalischen Nichts!

Gibt es denn, so dürfen wir aus gutem Grund jetzt einmal fragen, überhaupt ein physikalisches Nichts? Wissenschaftlicher und damit konkreter ausgedrückt: Ist irgendein kleinstmöglicher Raum, etwa ein irgendwo befindlicher differentiell kleiner Punkt existent, in dem nichts Materielles nachzuweisen ist? Kann so ein Punkt leer sein? 

Die Physik lehrt: Es scheint insofern kein Nichts zu geben, wenn man davon sprechen möchte, dass es irgendwo sowohl an Energie als auch an Raum beziehungsweise Ausdehnung völlig mangelt. Physiker können nämlich durch den so genannten Casimir-Effekt das Vorhandensein negativer Energie nachweisen , die für die Entstehung virtueller Teilchen im Rahmen der Heisenberg’schen Unschärferelation verantwortlich sein dürfte.

Um das zu verstehen, muss man sich freilich in die Gefilde der Relativitätstheorie und der Quantenfeldtheorie eingearbeitet haben. Das Ergebnis, etwas umgangssprachlicher ausgedrückt: Im ganz strengen Sinne sehen die Vertreter der Physik immer eine Nachweismöglichkeit und ein philosophisches Nichts kann durch die Physik keinesfalls bestätigt werden.

Dennoch sei es erlaubt, auch beim physikalischen Nichts Abstufungen zu machen. Auch hier gibt es, wenn wir zum Beispiel den Schwierigkeitsgrad des Nachweises von etwas als Maßstab heranziehen, diverse Grade, die sich einem Nichts wohl annähern können, es schließlich aber – und das ist der Clou – nie erreichen. Demnach ist es eigentlich doch nichts mit einem physikalischen Nichts!

Ich darf uns wieder auf den Boden des Alltags zurückholen und darauf hinweisen, wir sollten aufgrund der Erkenntnisse der Naturwissenschaft und der teils auffangnetzfreien Gedankenakrobatik der Philosophie dennoch nicht in den Fehler verfallen zu meinen, es gäbe im Grunde überhaupt kein Nichts. 

Ziehen Sie mal all die Geldscheine aus Ihrem Geldbeutel, klauben sämtliche Münzen heraus und dann fragen wir uns, wie viel Bargeld Sie nunmehr in Ihrer Geldtasche vorfinden. Eindeutige Antwort: Nichts. Ich fürchte, Leute, die diesen Zustand immer wieder als gewöhnlich erleben, können mit dem Trost eines Wissenschaftlers, die Tasche sei doch trotzdem mit Neutrinos gefüllt, nichts anfangen. Darum sind gerade solche Personen der Wissenschaft nicht eben in Verständnis und Liebe zugetan.

Fast hätte ich auf die Nichtse der Astronomie vergessen! Die können wir kurz abhandeln. Ziemlich verbreitet ist in der Öffentlichkeit in so einem Zusammenhang die Meinung, der Raum zwischen den Sternen sei schlichtweg leer. Indes auch dort sind, wie Sie von vorher wissen, natürlich zumindest die Neutrinos, aber auch elektromagnetische Wellen, die Dunkle Materie, die Dunkle Energie und womöglich noch so manches Unerkannte vorhanden. 

Bleibt nur das vielleicht existent gewesene oder zum Teil noch seiende Nichts vor dem Urknall. Das wäre dann aber allenfalls ein metaphysisches Nichts. Oder doch nicht ganz metaphysisch? Die Astronomen wissen es (noch) nicht. Vielleicht gilt aber auch hierfür das, was uns der Hausverstand zuflüstert: Aus nichts wird nichts.

Weiterführende Literatur: Ronald Weinberger. Die Astronomie und der liebe Gott, Sündige Gedanken eines vormaligen Naturwissenschaftlers, Verlag Hannes Hofinger 2022

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Ronald Weinberger

Ronald Weinberger, Astronom und Schriftsteller, 1948 im oberösterreichischen Bad Schallerbach geboren, war von 1973 bis 1976 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg. Von 1977 bis zum Pensionsantritt im Dezember 2011 war Weinberger an der Universität Innsbruck am Institut für Astronomie (heute Institut für Astro- und Teilchenphysik) als Fachastronom tätig. Als Schriftsteller verfasst Weinberger humorvolle Kurzgedichte und Aphorismen, aber auch mehrere Sachbücher hat er in seinem literarischen Gepäck: Seine beiden letzten Bücher erschienen 2022 im Verlag Hannes Hofinger, im Februar das mit schrägem Humor punktende Werk "Irrlichternde Gedichte" und im September das Sachbuch „Die Astronomie und der liebe Gott“ mit dem ironischen, aber womöglich zutreffenden, Untertitel „Sündige Gedanken eines vormaligen Naturwissenschaftlers“.

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