Helmuth Schönauer
Wolfsburg
Stichpunkt

Bei den Märchen ist nie klar, ob sie die Ursache oder die Beschreibung eines Sachverhaltes sind. Das macht sie so raffiniert mehrdeutig, dass jede Berufs- und Altersgruppe damit arbeiten kann.

Am häufigsten wird es freilich in der Pädagogik eingesetzt, wo man dem Kleinkind auf dem Schoß die Wörter gut und böse, schön und hässlich, gerecht und ungerecht erst einmal vorsagen, und später anhand einer berührenden Geschichte ins Kinds-Innere einträufeln kann. Das Kind ist irritiert. Ist der König jetzt so einer mit Krone geworden, weil er ein Märchen gelesen hat, oder hat das Märchen einen König gesehen und die Geschichte um seine Krone flugs aufgeschrieben?

Gute Märchen sind natürlich nicht nur in der Pädagogik verbreitet, sondern auch in der Wirtschaft, Wissenschaft und vor allem beim Untergang der Erde, wie der Klima-Umsturz ja schon genannt wird.

Ein kaum bekanntes Märchen handelt von Wolfsburg, das gerüchtehalber von Werwölfen gegen Ende der Naziherrschaft in die grüne Wiese gesetzt worden ist. In der Urfassung erzählt dieses Märchen davon, dass man die Wölfe durch blecherne Beutegreifer ersetzt hat. Innerhalb von Jahren wurden tatsächlich Millionen kleiner Blechwölfe gebaut und unter dem Tarnnamen Käfer in die Welt hinausgeschickt.

Einmal aus der Fabrik entlassen, eroberten diese Blechdinger jeden Kontinent und drangen bis an die entlegensten Küsten und Gebirgsketten vor. Diese Botschafter der Technik ersetzten nicht nur im Transportwesen die Pferde, sondern im Freizeitverhalten auch die Wölfe, die bislang in den entlegenen Gebieten gehaust hatten.

Zu den Dingern aus Wolfsburg sagte man in der Kindersprache des Bilderbuches „Auto“, und mit der Zeit wurde allen klar; „Das Auto war gekommen, um zu bleiben!“

An den Wolf erinnerte lange Zeit nichts mehr, nur die Sprache leistete sich manchmal einen Verweis auf diese verjagten Tiere, wenn es in Unfallberichten hieß: „Zwei Fußlämmer wurden am Zebrastreifen von einem Beutegreifer aus Blech gerissen.“ Man nahm es als gottgegeben hin, dass Jahr für Jahr tausende Menschen vom Blech gerissen wurden. Ab und zu verlangte jemand, dass man so einen Blechwolf samt Fahrer „entnimmt“, aber man beließ es meistens bei der Entnahme des Führerscheins.

Diese Unwesen begingen systematisch Fahrerflucht, konnten aber oft über Fotofallen am Straßenrand und die DNA überführt werden, wenn diese die Gestalt eines Nummernschildes angenommen hatte.

In jüngster Zeit freilich sind Teile der früheren Wolfspopulation wieder in die Alpen zurückgekehrt und verlangen, dass man in den entlegenen Gebieten das Auto entnimmt und ihnen selbst wieder Lebensraum gewährt.

An Wochenenden kommt es im Sommer zu sogenannten Doppeldemonstrationen. Dabei werden Wende-Schilder durch die Gegend getragen, die auf dem Hinmarsch gegen das Auto sind, auf dem Rückmarsch für den Wolf. Eine andere Gruppe macht es umgekehrt. Sie demonstriert hinwärts gegen den Wolf und rückwärts für das Auto.

Beide Gruppen geben an, dass die Existenz der Menschheit auf dem Spiel steht.
Das Problem erscheint immer unlösbarer, seit manche aus dem Hinterhalt vorschlagen, dass man bloß den Menschen entnehmen müsste, dann könnten Wolf und Auto friedlich nebeneinander leben und sich das Märchen von Wolfsburg erzählen, bis sie beide eingeschlafen sind.

Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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