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Helmuth Schönauer
Randale im eigenen Haus
Stichpunkt

In Grenoble plünderten herumziehende Gruppen am Abend die Geschäfte. – Warum ist uns Innsbruckern diese Nachricht ziemlich wurscht, obwohl Grenoble eine Partnerstadt ist und wir sogar eine Brücke nach ihr benannt haben?

Wahrscheinlich hat es damit zu tun, dass in beiden Städten das Herumwerken von Barbaren zur Routine geworden ist.

Einen elementaren Unterschied gibt es freilich. Während in Grenoble die Unruhestifter im Freien herumtoben und sich mit der Polizei herumschlagen, sitzen die Unruhestifter bei uns im Gemeinderat und ziehen mit mehr oder weniger Alkoholverbot ausgestattet durch die Innenräume des Rathauses.

Die Aufständischen werden in beiden Städten ähnlich wahrgenommen:
– sie haben keinen Grund, aufeinander loszugehen
– sie sind logischen Argumenten nicht zugänglich
– und sie überfordern alle sanften Einsatzgruppen, wie Sozialarbeiter und Psychologen.

Von den Grenoblern wissen wir einfach zu wenig, weil wir außer etwas Beamtenaustausch keinen Kontakt mehr zu ihnen haben. Aber von den Innsbruckern wissen wir genug, um uns des Ernstes der Lage bewusst zu sein und hilflos nach Auswegen zu suchen.

Die Wild-Gewordenen im Innsbrucker Gemeinderat zeichnen sich dadurch aus, dass der Bürgermeister beim Verteidigen der Schöpfung sich selbst für den Schöpfer hält. Die ehemaligen Fraktionen zerlegen sich im Wochenrhythmus und sind demnächst in 40 Solisten zerlegt. Der Umgangston untereinander ist dermaßen rau und ungepflegt, dass es keine Mediatorin bei Sinnen momentan übernehmen würde, hier etwas zu moderieren.

Dass man sich gegenseitig des Alkohol-Abusus bezichtigt und demonstrativ die Kinder mit alkoholfreiem Bier stillt, ist die Krone der Verwahrlosung.


Anmerkung:

Alle Mitglieder sind im guten Glauben gewählt, dass sie mit den Wahl-Stimmen sorgfältig umgehen. Der Gemeinderat ist ein öffentlicher Rechtskörper, von dem man sich erwarten kann, dass die darin vertretenen Menschen ordentlich und ohne Verhöhnung behandelt werden.

Niemand will beispielsweise vor Gericht stehen, und von einer stillenden Richterin das Urteil des eigenen Prozesses erfahren.

Niemand will eine Feuerwehrfrau beim Löschen des Kellerbrandes im Haus haben, um zusehen zu müssen, wie sie während des Löschens stillt.

Niemand will während einer Gemeinderatssitzung stillenden Müttern beim Argumentieren zusehen, die zudem extra Geld dafür bekommen, dass sie während der Sitzung im Gemeinderat eine Kinderbetreuung ordern können.


Ein Blick in die Zukunft lässt alle erschaudern. 

Wie ein Damoklesschwert hängt die nächste Nacht über Grenoble und die nächste Wahl über Innsbruck.

Die Tobenden in Grenoble wird man allmählich mit mehr oder weniger Polizeieinsatz in den Griff bekommen. Aber wie kriegt man den Innsbrucker Gemeinderat wieder dazu, dass seine Mitglieder miteinander sprechen?

Ein paar Stimmungen aus dem Innsbrucker Wahlvolk zeigen, dass man wahrscheinlich Ungewöhnliches tun muss, um diesen entgleisten Zustand wieder einzufangen.

1. Die AfD soll mit Sondergenehmigung kandidieren, damit wir sie wählen können, auf dass sie die Plätze besetzt statt der Entgleisten.

2. Niemand, der im jetzigen Gemeinderat sitzt, darf auf einer Liste für den nächsten aufscheinen, sonst wird diese Liste nicht gewählt.

3. Widerstandskämpfer gehen mit der weißen Fahne ins Landhaus und bitten um die Einsetzung einer Beamtenregierung per Notverordnung, zumindest für eine Wahlperiode.

4. Niemand geht zur Wahl. Wer beim Wählen erwischt wird, wird kurz und schmerzlos ausgelacht.

Vermutlich wird uns die Innsbrucker Randale noch über die Wahl hinaus erhalten bleiben. Selig die Grenobler, die wissen wenigstens, mit wem sie es unter der Vermummung zu tun haben. Wir aber stehen dem nackten provinziellen Wahnsinn gegenüber und sind sprachlos.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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