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Helmuth Schönauer
Probeliegen
Short Story

Meine erste Weihnachtsgeschichte führte ich kurz nach der Geburt gleich selber aus, weil ich noch nicht schreiben konnte. Da mir schon damals klar war, dass ich ein Untergrundschriftsteller werden müsse, merkte ich mir vorerst alles mit fotografischem Gedächtnis, ehe ich es später detailgenau zu Papier brachte.

Dieses verzögerte Aufschreiben ist zu allen Zeiten empfehlenswert, unabhängig vom politischen Charakter der jeweiligen Gegenwart. Wenn etwas nämlich nicht aufgeschrieben ist, kann es auch nicht für eine Verurteilung herangezogen werden, wie gerade jüngst der Altbundeskanzler leidvoll erfahren musste. – Hätte hätte, wäre wäre!

Anders als der Sohn des Altkanzlers habe ich durch die Geburt kein Erdbeben und schon gar keinen Rücktritt ausgelöst. Wer hätte auch zurücktreten sollen? Mein Vater war glücklich in der Gebietskrankenkasse und hatte mich für alle Krankheitsfälle gleich angemeldet, meine Mutter war glücklich mit mir, und meine Verwandtschaft forderte geradezu einen Auftritt von mir, keinesfalls einen Rücktritt.

In den 1950er Jahren gab es nur die notwendigsten Dinge, alles, was uns heutzutage online oder vor Ort zu Weihnachten einfällt, war noch nicht vorhanden. Ja, wir hatten nicht einmal einen Klimawandel, sodass uns die Jahreszeiten immer auf dem richtigen Fuß erwischten, denn wir waren vorbereitet, wenn der Winter kam, und in bester Stimmung, wenn es Sommer gab.

Zu Weihnachten schenkte man sich Zigaretten und Spirituosen, wenn man gut im Organisieren war, der Rest musste mit Selbstgestricktem und Selbstgebackenem auskommen, wobei sowohl die Wolle als auch die Lebensmittel sehr dünn und gestreckt waren.

Ich war pünktlich zum Herbstanfang auf die Welt gekommen, und zu Weihnachten schon so rüstig, dass ich einen längeren Transport mit Bahn und Postbus aushalten konnte.

Ich soll bei meiner ersten Ausfahrt sehr ruhig und neugierig gewesen sein, sagte man später, ich selbst kann mich nur erinnern, dass ich sehr dankbar gegenüber den Öffis war, dass sie mich wortlos mitnahmen und sicher beförderten.

Diese erste Ausfahrt ging von Innsbruck nach Erl, wo die Verwandten meines Vaters auf mich warteten, weil sie augenzwinkernd einen Passionsspiel-Helden in mir vermuteten.

Als Headquarter meiner Verwandtschaft diente lange Zeit ein geheimer Krämerladen, der erst nach der Gründung von SPAR in Kufstein als Franchise-Laden reüssierte. Das Postauto fuhr extra ein Stück über die Haltestelle „Mühlgraben“ hinaus bis vor die Tür des Krämerladens, sodass ich mit einer Handbewegung aus dem Öffi heraus in den Laden gehievt werden konnte.

Vermutlich schlief ich dann bald ein. Denn als ich aufwachte, war rund um mich herum eine große Feierlichkeit. Ein Onkel, der als Sozi endlich sagen konnte, was lange verboten war, machte uns darauf aufmerksam, dass es die ersten Weihnachten ohne Stalin wären. Aber niemand verfiel ins Weinen, es schien sich um eine neutrale bis positive Nachricht zu handeln.

Ein anderer prostete in Richtung Inn, wo am anderen Ufer Bayern lag. „Die Obergscheiten haben jetzt auch eine Besatzung!“ rief er und deutete auf ein stillgelegtes Grammophon, auf dem sich eine Scheibe von Édith Piaf lautlos im Standby-Modus drehte.

Jemand entdeckte schließlich, dass ich wach war, und alle fielen über mich her mit Witzen, Liebkosungen und Gerüchen.

Mich verblüffte, dass ich als angehender Schriftsteller vor allem die Gerüche wahrnahm und weniger die Worte, die mir bei der Schreiberei eher geholfen hätten.
Da es sich bei den Rufen, Sätzen und Beschwörungen meist um gutes Zeug handelte, konnte ich alles verstehen und richtig deuten, zumal nur jener kindliche Wortschatz verwendet wurde, den ich bereits im passiven Modus intus hatte.

Selbstverständlich stand irgendwo ein Baum, auf dem ein paar Kerzen aufgepflanzt waren. Aber man entzündete sie nicht, weil man sie auch im nächsten Jahr noch verwenden wollte.

Jemand stellte mich samt Korb vor den Christbaum und eine Tante, die in der fetzreichen Schweiz wohl als Tiroler Maid arbeitete, zückte eine wuchtige Kamera mit Blitzlichtschirm und machte jenes legendäre Foto von mir, auf dem ich mit halb zugekifften Augen vom Korb heraus in die Kamera, in den Raum, nach Erl und schließlich unheimlich deutlich nach Tirol hineinblicke.

Diesen Blick habe ich by the way nie mehr abgelegt. Wo immer ich wo hinschaue, es kommt Tirol zum Vorschein!

Das Foto wurde erst später in der Schweiz entwickelt und mitten im Fasching der Verwandtschaft in Erl zugeschickt. Ein einziges Foto genügt, um einen unverwechselbar zu machen! Noch Jahre später verschickten meine Tanten ihre Weihnachtspost mit mir als Motiv.

Nach dem Foto wurde ich in den Eingangsbereich des Krämerladens getragen, wo zwischen Säcken von Kartoffeln, Zucker und Mehl eine Behelfskrippe aufgestellt war, die jemand aus Obststeigen gebastelt hatte. Obwohl noch keine Figuren griffbereit waren, legte man mich probehalber in die Krippe und sah, dass es gut war.

Ich habe dieses Krippengefühl später immer wieder erlebt, wenn ich Stegreif über Bücher referieren sollte. Die Parallele ist ja verblüffend: Ein gutes Buch rührt dich selbst im hohen Alter noch wie ein geschnitztes Krippenbaby.

Jahre später hat man die Krippe dann verbrannt, weil es nicht gelang, ordentliche Figuren aufzutreiben. Und ich sei ohnehin der beste Krippeninsasse gewesen, den Erl je gesehen hat, sagt man, wenn man ausdrücken will, dass ich neben Adolf Pichler als der zweite große Schriftsteller aus diesem Ort angesehen werde.

Eine gute Shortstory soll den Autor möglichst kaltlassen, aber das Publikum in eine Panoramarührung versetzen. Ich bin jetzt völlig herunter-temperiert, was meine eigene Weihnachtsgeschichte betrifft. Sie muss ja niemanden rühren außer meine Kids, dass sie mich nicht ins Altersheim stecken, wenn sie sehen, wie kalt ich die Welt ins Auge fassen kann.


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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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