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Helmuth Schönauer bespricht:
Manfred Mixner
Anwesen
Erzählung vom Leben in einem Waldhaus

Wahrscheinlich kann Glück nur auftreten, wenn es zuerst als literarisches Bild formuliert und später als echtes Leben ausgestaltet wird. Manfred Mixner ist hoffentlich dieses Glück zuteil geworden.

Jedenfalls formuliert er das Bild vom Glück in seiner Erzählung „Anwesen“ zuerst als Waldnotiz, um es anschließend mit Notizen aus dem Leben zu untermauern und zu befeuern, ehe er das alles noch einmal in einem ernüchternden Nachwort auf Null einschleift.

Überall auf der Welt, wo es Wälder gibt, gibt es auch Waldliteratur. Oft wird dieser ein Zitat von Henry David Thoreau vorangestellt, das entweder religiös gedeutet werden soll, also der Wald ist Gott und so, oder literaturwissenschaftlich, also der Wald ist eine Bühne, auf der wir unsere Träume aufführen.

Bei Manfred Mixner, einem Literaturpromotor aus dem Premiumsegment, bedeutet das Eingangszitat natürlich einen Hinweis auf die Inszenierung des  Folgenden: „Ich bin in den Wald gegangen, weil mir daran lag, mit Bedacht zu leben.“

„Anwesen“ beginnt mit einer zweiseitigen Szenebeschreibung, die den Zusammenhang zwischen „anwesend“ und „wesentlich“ skizziert. Der Autor hat sich vor dreißig Jahren von Berlin aus einen Traum erfüllt und ein Anwesen in Schweden gekauft und adaptiert, seit zwanzig Jahren lebt er dort in drei Facetten: als Leser in seinem Bücherhaus, als Waldarbeiter und Wegbauer, als Heimatforscher und Sozialhistoriker.

Eines Tages ist die Zeit reif, eine Art meditative Erzählung mit sich selbst zu schreiben. Das Leben in einem Waldhaus richtet sich an die äußeren Jahreszeiten und zeigt saisonale Beschäftigungen, die im Einfahren von Vorräten für den Winter enden. Dieser kommt dann auf der letzten Seite und bringt die vollkommene Stille.

Die Höhepunkte dieses gedanklichen Durchlaufs von Leben, Jahreszeiten und Träumen lassen sich in einer beliebigen Auswahl von „Funktionssätzen“ darstellen.
„Ich bin eingeschlafen, beim Aufwachen hatte ich das Buch fest in der Hand.“ (57) / „Alle meine Zeit hier ist Freizeit.“ (119) / „Nie Langweile, immer geschieht was.“ (168)

In dieser Grundbefindlichkeit kommt das Lesen wie von selbst. Sätze daraus greifen in die Natur über und bringen die Erkenntnis, dass die Natur gesetzlos ist. Das, was wir mit ihr machen, lässt sie unbeeindruckt. Die gut 16.000 Bücher, die im Bücherhaus gestapelt sind, lesen sich selbst, weil sie gut einsortiert sind und untereinander sprechen. Oft genügt es, die Regale entlangzugehen, und sie sind alle upgedatet und frisch.

Obwohl der Autor in seiner aktiven Zeit als Literaturpromotor ständig mit aufkeimenden und auffrischenden Schreibkarrieren zu tun gehabt hat, sind die schreibenden Persönlichkeiten jetzt alle stillgelegt. Die Bücher sind es, die bleiben. Am ehesten kann noch einer wie Jorge Luis Borges, der argentinische „Weltbibliothekar“, als Person auftreten; er sitzt dann in einer Wald-Schaltung kurz auf der Veranda, ehe er samt seiner Literatur wieder ins Bücherhaus getragen und eingeräumt wird.

Aus dieser Kernzone des Lesens heraus macht sich der Körper regelmäßig auf, um mit dem Hund den Wald zu durchstreifen, den Wasserstand des Sees zu beobachten und den Verlauf der Jahreszeiten anhand von Pflanzen und Tieren zu registrieren.

Die Nachbarn sind alle kilometerweit entfernt, man redet zufällig miteinander, und oft ist es ein schnöder Schicksalsschlag, der dabei erzählt wird. Eine Frau hat ihren Mann nach Jahrzehnten verlassen, dieser weiß nicht, was tun; ein anderer hat einen Schlaganfall überlebt und weiß nicht mehr, wie lange er unentdeckt damit herumgelegen ist; auf einem Nachbargrundstück zieht eine Frau ein, die vor allem mit Hunden spricht, die daraufhin nächtelang durchbellen. Bei günstigem Wind hört man Fragmente einer Autobahn, manchmal ist sogar ein Eisenbahngeräusch dabei.

In kleinen Erinnerungsabsätzen ist erklärt, was die Vorbesitzer des Anwesens vorgehabt haben, letztlich sind Zufallsmenschen aus Hamburg und Dänemark im Wald hängengeblieben und haben sich mehr oder weniger freiwillig darin aufgehalten.

Zusammengetragene Heimatbücher erklären fragmentarisch, dass man den See einmal abgesenkt hat, um gegen Hungersnöte Ackerland zu gewinnen, lose werden Touristenströme durch die Gegend geführt, ein Verein zur Erhaltung von Wegen stellt den nötigsten Sozialkontakt her. Mehr als das Funktionieren von Wegen braucht es nicht, weil es nichts Gemeinsames zu besprechen gibt.

Es ist eine Gegend für Außenseiter und Insider der eigenen Psyche. Obwohl der Autor offensichtlich eine Frau am Gelände hat, spielt sie keine Rolle, außer dass sie damals das Grundstück mit erworben hat. Und alle Schaltjahre kommt die Tochter aus Graz mit den Enkelkindern, für ein paar Ferienwochen lässt sich die Gegend gut nützen, aber dann ist es wieder höchste Zeit, sich dem „Ablesen“ von Büchern zu widmen, die ständig ihren Inhalt kundtun wollen.

Die Meditation über das Lesen und Leben im Wald ist beinahe romantisch, und als Leser ist man schon vollends euphorisiert von diesem „anwesenden“ Geist. Da kommt es aber doch noch zu einem kleinen Nachwort, in dem die Hölle los ist.

Der Autor beschreibt im Kurzessay, wie sich das Verhältnis zu Schweden völlig verändert hat, seit er Dauersiedler geworden ist. Schlagartig wurde er zum Einheimischen, die Bibliothek versorgte ihn mit Material zum Erwerb der schwedischen Sprache, regelmäßiges Radiohören tat ein übriges. In den 1980er Jahren galt Schweden als Traumland, in dem die Tugenden Sozialstaat, Emanzipation und Persuit of Happiness vollendet auftraten. Aber das alles geschah um den Preis einer Infantilisierung und Trivialisierung der Öffentlichkeit.

Das ganze Land ist mittlerweile ein Blog von Ratlosigkeit und Geschwätz, das im Katastrophenfall zu Radikalisierung führt, wie man am Beispiel der Pandemie sehen kann. Journalisten sind nicht fähig, einen Sachverhalt in eigenen Sätzen zu formulieren, die Nachrichten sind zu Designerprodukten geworden.

Gefragt ist nicht Ratio, sondern Wort-Marketing. Jeder Absatz führt zur Formulierung, dass die schwedische Nuance eines Sachverhaltes die „beste der Welt“ sei.

Selbst die Gesetzestexte sind mittlerweile so variabel formuliert, dass sie in den unteren Instanzen nicht angewandt werden können. Erst das Höchstgericht schreibt den Sinn des Gesetzes als Handlungsanleitung aus.

Der Autor ist fassungslos, wie ein Gemeinwesen in Trivialität stranden kann, ohne Orientierung, Sprache, Konzept oder Sinn.

Natürlich ist Manfred Mixner klug und demütig genug, seine Erzählung vom Leben in einem Waldhaus selbst in Frage zu stellen. Ist es die eigene Biographie, die ihn zu dieser Sprachkritik gebracht hat, oder ist es einfach das viele Lesen, das kirre macht, wenn man unter Leute gerät?

„Anwesen“ zeigt sich als eine romantische Geschichte. Auch wenn man als Leser weiß, dass das Lesen im Wald gefährlich werden kann, möchte man nicht aus dieser Romantik aussteigen.

Anwesen hat nämlich die verrückte Suggestion in sich, dass es überall funktioniert, zum Beispiel auch in einer Parterrewohnung.

Manfred Mixner: Anwesen. Erzählung vom Leben in einem Waldhaus.
Graz: Keiper 2021. 225 Seiten. EUR 22,-. ISBN 978-3-903322-38-7.
Manfred Mixner, geb. 1947 in Graz.


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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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