Helmuth Schönauer
Auflauf der Impfitären
Short Story
Den Innsbrucker Messe-Dom muss man großzügig mit jenem Gebläse sterilisieren, das sonst zwischen den Obstplantagen gegen die Insekten unterwegs ist. Eine Stunde lang fährt jeden Morgen ein E-Schlepper mit Propeller-Aufbauten durch die Hallen, in denen üblicherweise Gondeln für Schilifte, Kessel für Weißwürste und elektronische Chips als Tourismus-Gadgets ausgestellt und mit Bier desinfiziert werden.
Innsbruck steht ein heißer Impf-Tag bevor. Zur gleichen Zeit, als einem ausgewählten Jahrgang in der Messehalle der erste Immunschuss unter die Haut gejagt wird, erhält das Erfinderehepaar des Impfstoffs im Berliner Bellevue ein riesiges Keks mit Stern. Der deutsche Bundespräsident, eingekleidet als Masken-Adler, überreicht beiden Eheteilen je einen Orden, was als deutliches Aufzeigen der Sozialdemokratie gewertet wird. Nicht nur Wahlrecht, auch Erfinderrecht für Frauen, sagt der Mann mit den weißen Haaren.
Während durch die Ehrung in Berlin zwei herausragende Forscher zu gegenderten Helden gemacht werden, zischt ihre Erfindung der ausgewählten Bürgerschaft Innsbrucks unter die vorsorglich rasierte Hautfläche.
Tatsächlich werden die großen Bildschirme in den Hallen mit allerhand Ausschnitten der Ehrung bespielt, während die Oberarme freigerollt und kurz bestochen werden. Für jeden Impfling ist der Stich so etwas wie eine Mondlandung. Schon besteht Aussicht auf eine große Individualgeschichte inmitten der Menschheit.
Die Impfungen im Dom werden Monate dauern, heißt es. Der Taxistand vor dem Aufmarschplatz soll bis in den Herbst hinein bespielt werden. Und die Taxler der Stadt karren Tag für Tag Unmengen von Willigen heran, die im Amtstext Impfitäre genannt werden.
Selbstverständlich wird diese Ansammlung von Menschen vom Staatsapparat überwacht und mit ideologischen Punzen versehen. Unter Impfitären sind Anhänger einer Ideologie zu verstehen, in der Menschen durch eine Spritze getauft und zu Vakzine-Brüdern und -Schwestern gemacht werden.
Die Impfung hat etwas Religiöses an sich. Die Zugangssysteme zum Areal sind mit Weihwasserspendern gesäumt, aus denen man sich mit sterilem Gel bedienen und bei Bedarf ins Gesicht fahren und bekreuzigen kann. Das Leitpersonal ist mit Kutten-ähnlichem Einwegzellophan bekleidet. Durch den verpflichtenden Mundschutz klingen alle Anweisungen und Nachfragen wie ein Rosenkranz oder ein Gebet aus archaischen Nachkriegszeiten.
Nach dem Weihvorgang, der diskret in Einzelkabinen abgewickelt wird, schleichen die Menschen in einen Ruheraum, wo sie anfangen können, ihr Glück auszusitzen. Nach einer gewissen Weile springt ein Zivildiener durch den Raum und singt aus dem Mundschutz: Sie können gehen! Sie sind frei!
Draußen vor dem Messekomplex beginnt das neue Leben. Ein paar Geimpfte getrauen sich nach einem Halbjahr vollkommener Abgeschiedenheit den Erstbesten anzusprechen und mit ihm über das Glück zu reden. Diese Gespräche können sehr niederschwellig angegangen werden, weil alle aus der gleichen Geburtsjahrs-Kohorte stammen und sich daher schon als Kinder in der Kleinstadt gesehen haben.
Wenn sie eine Maske tragen, sind die Innsbrucker gar nicht einmal so hässlich, wie man sie auf Selfies oder alten Fotos in Erinnerung hat!
Die meisten sind in der berühmten Leitgebschule mit den wesentlichen Dingen vertraut gemacht worden. Neben Lesen und Schreiben, etwas verstohlener Heimatkunde mit Kriegsheimkehrern, als deren Ahnvater der Namensspender der Schule angesehen wird, waren es vor allem Impfungen, die auf ein sorgenfreies Leben vorbereiten sollten.
– Ich weiß noch, wie sie ein Ritzmesser über den Bunsenbrenner gehalten haben, ehe wir am Oberarm zweimal geritzt wurden gegen Pocken.
– Und jetzt hat der Arzt genau dazwischen die Impfung gesetzt, berührend!
– Ja, und bei den Impfungen war immer Herbst, der Platz vor der Schule war gelb von Blättern, es fuhren kaum Autos, und das eine, das doch über den Platz gerast ist, hat prompt das Kind des Gasablesers überfahren.
– War das der Siegfried?
– Nein, der Konrad, den Siegfried haben sie im Frühjahr überfahren.
– Ich hatte bei der Pockenimpfung den roten Pullover an und bei der Kinderlähmung den blauen, mehr hatte ich nicht, damals in den fünfziger Jahren.
– Und jetzt ist es wieder so, ich habe ein blaues Polohemd und noch ein blaues, mehr habe ich nicht, weil ich ein Jahr lang wegen der Pandemie nicht einkaufen konnte.
Inzwischen hat die Truppe den Taxistand erreicht, wünscht sich viel Glück, ohne nachzufragen, ob die Namen auch stimmen, die man grob in Erinnerung hat. Fast alle heißen Helmut oder Hermann, weil man damals kein Internet hatte, um sich brauchbare Namen auszusuchen. Man winkt sich zu und freut sich auf den zweiten Durchgang, der in ein paar Wochen wieder im Messe-Dom stattfinden wird.
Zu Hause schreibt der Bibliothekar das eben erlebte Glück um in eine Kurzgeschichte. Die braucht er, um seinen Kids zu beweisen, dass er noch selbständig denken und handeln kann. Fernab eines Altersheims. Die Kurzgeschichte kann aber auch eine Art Nebenwirkung sein, die bei Bibliothekaren auftritt, wenn sie geimpft werden. Kopfweh heißt bei ihnen nämlich Lesen.
Im Hintergrund läuft der Einheitssender. Darin wird gerade die Sequenz gezeigt, die schon im Messegelände als Liveübertragung zu sehen war. Die Ehrung, meint der Kommentator, ist für die Deutschen so wichtig, wie wenn es bei uns in Österreich Niki Lauda oder Red Bull gewesen wären. Beide haben ja ebenfalls einen entscheidenden Schritt zur Weiterentwicklung der Menschheit geleistet.