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Helmuth Schönauer
Wenn Salvini recht hätte?
Stichpunkt

A) Die Aussagekraft von Glossen

Am Beispiel eines Verkehrsunfalls lässt sich das Wesen einer Glosse eindrücklich zeigen. Der Polizeibericht entspricht der Nachrichtenlage. Darin werden unter Wahrung des Datenschutzes die beteiligten Personen, Unfallhergang, Ort und Zeit vorgetragen. (In Südtirol wird nach italienischem Recht noch die Automarke und die Zahl der beteiligten PS genannt.)

Die Glosse hingegen versetzt sich in die Köpfe der Beteiligten und schildert fiktiv aus deren Perspektive, wie es wohl ist, wenn man frisch überfahren worden ist. Oder wie man leidet, wenn der SUV eingedellt ist, mit dem man gerade selbst jemanden überfahren hat.

Die Glosse spekuliert und lässt dadurch Präferenzen für das Heldentum der einen oder anderen beteiligten Person erkennen. In der Glosse kommt es aber nicht zur Rechtsprechung, das erledigt dann das Gericht.

Diese Spekulationen aus dem Kopf einer Person heraus haben einerseits großen Unterhaltungswert.
– Wie schaut Salvini, den wir nur als Außenansicht kennen, von innen aus?

Andererseits gibt eine Glosse auch Hilfestellung für unerwartete Situationen.
– Was soll ich denken, wenn mein Fuß unter einem SUV eingeklemmt ist?
– Welche Strafe erwartet mich, wenn ich spontan Fahrerflucht betreibe?


B) Im Kopf von Salvini

Alois Schöpf hat sich für die Salvini-Glosse probehalber ins Innere des italienischen Politiker-Kopfes begeben und die These aufgestellt, dass in dessen Wahrnehmung in Rom die Autobahn im Wipptal zu schmal und zu wenig durchlässig ist.

In diesem Gedankenspiel hat der Glossist darauf hingewiesen, dass wir bei diesem Thema ständig die Zeitachsen für die Geschehnisse neu kalibrieren müssen.

Die Zahlen für die Verkehrs-Parameter von 1960, als mit den Planungen der Brennerautobahn begonnen wurde, stehen in keinem Verhältnis zu jenen, die man für die heutigen Parameter braucht.

Die Reaktion des Publikums auf die Glosse ist teilweise spielverderberisch, wenn man dem Glossisten Autobahngeilheit und den Wunsch nach mehr Autobahnen durchs Gebirge vorwirft. Die Glosse wurde von diesem Teil des Publikums offensichtlich wie ein Polizeibericht gelesen und nicht als fiktive Überlegung.


C) Drei Übungen (gratis)

Anlässlich dieses Missverständnisses darf ich drei Übungen aus meinem Maßnahmen-Köfferchen Übungen zur Lebensqualität vorstellen. (Die Vorschläge kosten in der Realität bei Anforderung des Referenten ein Schweinegeld, können hier aber im Non-profit-Blog gratis gelesen werden.)

1. Übung
Lies jeden Text einmal als Polizeibericht und dann als Glosse. Gibt es einen Unterschied?

2. Übung
Nimm deine letzte Autofahrt her, an die du dich noch erinnern kannst.
Wie viele Menschen hast du während dieser Fahrt mit Lärm belästigt, durch Beschleunigung angegast oder durch Unaufmerksamkeit beinahe überfahren? Überlege nach jeder Fahrt, während du dich abgurtest, zehn Sekunden lang, wen du jetzt gerade wieder geschädigt hast? (Du ärgerst dich ja auch, wenn jemand vor deinem Fenster Gas gibt und dann abhaut.)

3. Übung
Überlege anhand deines persönlichen Freundeskreises die Zunahme des Verkehrs.
Ein guter Ansatzpunkt ist dabei die Begräbnis-Liste von morgen.

– Wenn du heute stirbst, welche zwölf Personen müsste man morgen für dein Begräbnis einladen?
– Welche Anreisen hätten diese Begräbnisbesucher?
– Welchen CO2-Ausstoß schaufeln sie dir ins Grab hinunter mit der Floskel Staub zu Staub, CO2 zu CO2 ?
– Erstelle diese Liste unter der Annahme, du wärest 2020, 2000, 1980 oder 1960 verstorben.

Die Begräbnisliste würde immer kompakter, überschaubarer und CO2-freundlicher, je weiter du zurückgehst. Während die zwölf Personen 1960 wahrscheinlich alle zu Fuß angereist wären, weil außer Schulkameraden niemand beim Begräbnis gewesen wäre, hätten sich deine Freunde mit jedem Jahrzehnt physisch von dir entfernt und müssten immer weitere Strecken mit immer größeren Autos zurücklegen, um dich noch rechtzeitig beim Begräbnis zu erwischen.


D) Wir alle sind zwischendurch Salvini.

Diese Übungen führen wieder stracks in den Kopf von Salvini. Dieser schüttelt einfach den Kopf, wenn er sich fragt:

Warum sind wir Italiener die Bösen, wenn wir unsere Waren ausliefern müssen, während die alpinen Anrainer die Guten sind, wenn sie von einem Cappuccino zum nächsten über eine Autobahn jagen, die tatsächlich immer enger und verkalkter wird?

Das Gute für ihr Glücksbild nehmen sie aus dem Jahr 1960, das Böse und die Nebenwirkungen der Autobahn aus 2023. Dabei sind sie es selbst, die neben dem Transit den Verkehr ins Unermessliche hausgemacht haben wachsen lassen.

Wenn wir also Slots ausgeben, dann aber auch gefälligst für die Einheimischen, damit sie es sich überlegen, wann sie sich selbst die Autobahn verstopfen wollen auf dem Weg zum Cappuccino.

Im Kopf des Salvini schaut es genauso aus wie in jedem Kopf von uns: Wir sind überfordert und sprachlos, in welchen Exzess der Lebensumstände wir uns hineinbewegt haben.

Manchmal kommen uns dabei seltsame Sätze aus: Die ehrlichste Maßnahme wäre (Achtung: Glosse!) die Absiedelung des Wipptales.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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