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Helmuth Schönauer
Erweiterte Gewalt
Stichpunkt

„Wenn es mit Gewalt nicht geht, musst du es eben mit noch mehr Gewalt versuchen!“ ‒ Dieses archaische Zitat eines israelischen Militärsprechers nach der x-ten Auseinandersetzung an der Staatsgrenze trifft uns wie ein Nagel, der in den eigenen Kopf eingeschlagen worden ist.

Seit Jahrzehnten nämlich versucht unsere Gesellschaft, die Gewalt humanistisch zu bekämpfen.

Generationen von Pädagogen haben den Nuller-Jahrgängen beigebracht, dass Zuschlagen keine Lösung ist. Und dennoch muss immer wieder in Notaufnahmen Anzeige erstattet werden, wenn wieder „blaue Flecken“ eingeliefert worden sind.

Sarkastiker geben zu bedenken, dass mit der Zunahme der psychologischen Einrichtungen offensichtlich auch die Gewalt zugenommen hat, weil diese jetzt niederschwelliger ausgemacht und zur Anzeige gebracht wird.

Gleichzeitig hat sich der Begriff wie von Geisterhand gesteuert ausgeweitet. Mittlerweile gelten nicht bloß blaue Flecken als Nachweis, sondern auch die Schrammen in der Seele werden der Gewalteskalation zugerechnet.

Jeder kann Opfer von Gewalt werden. In Zeiten, in denen das Individuum am Papier ein unantastbarer und unversehrter Souverän ist, gibt es so gut wie niemanden mehr, der nicht unter irgendeiner Gewalt leidet.

Zynisch müsste man fragen, warum sich die Gewalt so hartnäckig hält, wenn sie seit Jahren bekämpft wird? Woher kommen Jahr für Jahr die neuen Gewaltanwender, wenn wir doch die vorhandenen Jahrgänge alle schon therapiert haben?

Hat sich da ein Geschäftsmodell Gewalt aufgetan, das wir alle unterschätzt haben? Beispielsweise in den Vorbildern, wo ja immer noch Täter aller Art gewürdigt werden, während das Opfer bieder mit Mitleidsfloskeln eingedeckt wird.
Hat die kluge Pädagogik vielleicht etwas übersehen und hinter den korrekten Formulierungen im Umgang mit den Kids deren Seelen verwahrlosen lassen?

Als Lösung für dieses Unbehagen, wonach man während des Pädagogisierens nicht an das Innere der Kids herankommt, wurde der Begriff „seelische Gewalt“ eingeführt. Jetzt kann man nämlich alles zur Gewalt erklären und dementsprechend an eine Fachstelle für psychische Probleme überweisen.

Selbst gereifte Lebenskarrieren sind nach diesem erweiterten Gewaltbegriff nicht vor einer Einweisung irgendwohin gefeit.

Und tatsächlich ‒ die seelische Gewalt lauert überall:

Wenn dir in der Morgensonne eine Frau mit zwei Hunden entgegenkommt und du die Straßenseite wechseln musst, weil du das Geschlecke von Hunden zwischen den Beinen nicht magst, bist du ein Opfer von Gewalt. Du kannst nach dem Spaziergang gleich zur klinischen Psychologin gehen.

Wenn die Flughafenbetreiber wissen, dass Lärm krank macht, und sie dir dennoch eine Maschine nach der anderen über den Kopf jagen, hast du Anspruch auf stationären Aufenthalt in einer schalldichten Einrichtung.

Wenn dich schließlich ein gleich großes Individuum, wie du eins bist, anhustet, bist du schlagartig traumatisiert und hast Anspruch auf Therapie.

Wenn es als anerkannter Fluchtgrund für die Gewährung von Asyl gilt, dass ein Nachbar damals in deiner Straße Opfer eines Regimes geworden ist, dann haben alle Tiroler das Recht auf therapeutisches Asyl in einem Land freier Wahl.

Und wie verschwindet eigentlich Gewalt? ‒ Durch den eigenen Tod, auch wenn dieser nicht gewaltsam sein sollte.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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