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Literarische Korrespondenz:
Helmuth Schönauer an Waltraud Mittich
Betrifft:
Kritik an einem noch nicht erschienenen Roman!

Sehr geehrte Frau Mittich!

In meiner Überlegung über die „vier Zugänge zur ukrainischen Literatur“ (https://schoepfblog.at/helmuth-schonauer-vier-zugange-zur-ukrainischen-literatur/) aus Tiroler Sicht habe ich sie erschreckt, indem ich den Plot Ihres Herbst-Romans zitiert habe.

Es handelt sich bei der Notiz zum Roman „Ein Russe aus Kiew“ nicht um eine Rezension, sondern um die Erwähnung eines Katalog-Bausteins aus dem gegenwärtigen Literaturmarkt.

Meine Sichtweise ist dreifach gewöhnungsbedürftig:
– erstens trenne ich zwischen Literatur und Literaturmarkt
– zweitens kommentiere ich das Geschehen aus der Sicht des Endverbrauchers
– drittens beschreibe ich mit dem Projekt BIP (Buch in Pension) die Literaturgeschichte in Echtzeit, sie ist also morgen vielleicht schon wieder anders zu lesen

Ihr Herbst-Roman unterliegt vorerst noch dem Literaturbetrieb, bei dem die Lesenden erst zu Wort kommen, wenn das Buch schon ausgeliefert ist.

Sie haben als Autorin das Buch in einer anderen Welt geschrieben, als wir Lesenden es im Herbst in Empfang nehmen.

So wie wir Gaskonsumenten uns die Nase reiben, wenn wegen des Angriffskriegs auf die Ukraine kein Gas mehr aus dem Kocher kommt, reiben wir Buch-Konsumenten uns die Augen, wenn noch immer das gleiche aus der ukrainischen Pipeline der Literatur kommt wie vor dem Krieg.

Diese Pipeline reagiert in beiden Richtungen: nicht wenige schicken Ukraine-Bilder aus dem Westen zurück in das Kampfgebiet und wundern sich, dass es dort anders verstanden wird.

Die Qualität der Literatur zeigt sich, wenn die Umstände sich verändern. Vieles, was momentan in der Ukraine-Literaturleitung steckt, wird im Herbst nicht mehr konsumierbar sein.

Bitte sehen Sie meine Beschreibung nicht als Kritik an Ihrer Arbeit, sondern als jene des Literaturmarktes.

Und wenn Sie genau schauen, so werden Sie meine Position kaum im Literaturbetrieb wiederfinden, weil alle im professionellen Wirtschafts-Schreib-Kreislauf stecken und sich niemand eine Kritik leisten kann, will er nicht vom Regal des Geschäftsmodells fallen.

Ich werde natürlich im Herbst gerne Ihren Roman lesen und besprechen, als Literatur, mit den hungrigen Augen eines Endverbrauchers.

Herzlich Helmuth Schönauer

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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