Helmuth Schönauer
Die Entsiedelungsfalle
Stichpunkt
„Ich bin froh um jeden Menschen, den es nicht gibt. – Und hoffentlich kriege ich die Zeit gut hin, bis es mich auch nicht mehr gibt.“
Dieser Seufzer kommt nicht von gequälten Menschen, denen die Sterbehilfe (wie es aussieht) auch mit dem neuen Gesetz nicht praktikabel gewährt wird. Wer sich länger auf einen post-coronalen Smalltalk einlässt, wird staunen, wie viele Menschen eigentlich die Schnauze voll von anderen Menschen haben, weil diese in unserem Land kaum noch als Einzelperson auftreten, sondern als Rudel, gelenkte Ströme, Eventcluster und Staumasse in den Ortschaften.
Das Land ist am Limit, was die Menschenmassen betrifft. Denn selbst wenn sie gerade nicht persönlich über uns herfallen, so hinterlassen sie doch mithilfe von Zweitwohnsitzen, Vergnügungseinrichtungen und Parkplätzen eine verbaute Fläche. Bodenversiegelung ist Abtöten von Lebensraum, darin stimmen nicht nur Hochwasserexperten überein.
Glossen sind unter anderem auch dazu da, dass sie Vokabeln zur Verfügung stellen, die ein diffuses Gefühl in die eine oder andere Richtung beschreiben. In einem Kommentar über einen touristischen Blabla-Kongress über Nachhaltigkeit verwendet Alois Schöpf das wundersame Wort „Entsiedelungsfalle“.
Im ersten Rezeptionsaufgriff stößt der Begriff wahrscheinlich auf Ablehnung, aber wenn man ihn einsickern lässt, beschreibt es auf geniale Weise das Lebensprogramm der letzten siebzig Jahre:
„Wie müssen alle in die Alpen holen, damit diese uns nicht verstoßen! Wenn wir nämlich nicht aufpassen und uns nicht mit Bollwerken gegen sie wehren, werden sie mit Muren gegen uns vorgehen und uns aus den Tälern hinaus spülen.“
So ist auch die These des Glossisten zu verstehen, dass ein Tal in die „Entsiedelungsfalle“ geht, wenn es nicht am hintersten Ende ein befestigtes Hotel hat, das den Weg offen hält und den schweren Maschinen Zugang zu Wildbach- und Lawinenverbauungen ermöglicht.
Das Hotel wäre in diesem Fall die Garantie, dass die öffentliche Hand das Tal nicht vergisst, und nach jedem Unwetter die nötigen Bautrupps schickt.
Was im Falle des Obernberg Tales als vertane Chance beschrieben wird, weil das fertig geplante Hotel an entsprechenden Zufahrten scheitert, ist im gegenüberliegenden Schmirn- und Valsertal auf andere Art schon längst in aller Munde.
Als im vorigen Jahr Muren zum dritten Mal innerhalb von Tagen die Talböden heimsuchen und verwüsten, hat der Bürgermeister die Schnauze voll und verlangt endlich auch eine saftige Wildbachverbauung und eine echte Staumauer, so wie in allen anderen Tälern.
Sein Wunsch ist verständlich, aber er ignoriert die Denkweise im Landhaus. Wenn ein Bürgermeister eine Verbauung will, muss er zuerst ein Chalet ans Tal-Ende setzen, denn erst dann kommen Straße, Kapital und Gäste und verlangen Schutz in Form von Verbauung.
Wer als bloßer Einheimischer argumentiert, kriegt nichts außer Muren und geht in die Ensiedelungsfalle.
Um auf den Eingangsseufzer zurückzukommen: Vermutlich werden sich sogenannte Naturgewalten einen Teil der versiegelten Fläche wieder zurückholen und auf eine andere Art fruchtbar machen, nämlich als pure Fläche, worin es an guten Tagen nichts als sogenannte Leere zu bestaunen gilt.
Wenn man davon ausgeht, dass die Zahl der Menschen zunimmt, die von den Menschenmassen die Schnauze voll hat, so werden freiwillig nur mehr jene in die Alpen kommen, die dort auch einen Leerraum vorfinden, eine Art Willkommensraum, worin das Individuum seine wahre Größe und Nichtigkeit erfahren kann.
Wir diskutieren die Entsiedelungsfalle meist über die Wirtschaftlichkeit und unterstellen gleichzeitig naiv-grüne bis religiöse Grundabsichten, wenn jemand gegen Verbauung, Zusammenschlüsse oder Versiegelung auftritt.
Wir könnten ja gewisse indigene Zonen in Australien und Kanada zum Vorbild nehmen, wo das Tabu eine allmählich anerkannte Rechtsgröße wird. Es wird schon einen Sinn haben, warum die Aborigines seit Jahrtausenden nicht auf den Uluru (vormals Ayers Rock) gestiegen sind.
Vielleicht sollten wir als Lösung aus der Entsiedelungsfalle an den Tal-Enden einen kleinen Uluru bauen, statt eines Hotels. Die Bauwirtschaft könnte verdienen, die Talbewohner hätten ein Einkommen und die Touristen wären glücklich, weil sie ja nichts anderes wollen, als dass sie als Individuum im Zentrum eines Tabus wahrgenommen werden.
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