Print Friendly, PDF & Email

Helmuth Schönauer bespricht:
Robert Kleindienst
Das Lied davon
Roman

Wenn jemand eine wortlose Kindheit erfahren hat, wie soll er später davon erzählen?

Robert Kleindienst nimmt sich das Schicksal seines Vaters zu Herzen, der einst ziemlich wortlos im Tiroler Oberland bei einer Pflegefamilie aufgenommen und bald darauf in die berüchtigte Bubenburg im Zillertal gesteckt worden ist. 

Später in Salzburg ist er dann ein geschätzter Musiker geworden, der den Ton der Wortlosigkeit beim Publikum getroffen hat. Offensichtlich lässt sich die Sprachlosigkeit der Nachkriegszeit später mit Musik überwinden.

Der Roman Das Lied davon ist vorerst eine späte Versöhnung des Herumgestoßenen mit der Tiroler Erziehungsluft. In seiner Behutsamkeit stellt er freilich auch ein Muster dar, wie man über eine schwere Kindheit erzählen könnte, ohne dass dabei die einzelnen Sätze zugespitzt abermals verletzend werden.

Das Romangerüst fußt auf einem ansprechenden Erzähl-Sockel mit überschaubaren Zeitachsen. Der Ich-Erzähler Luis ist erfolgreicher Musiker aus der Gegend um Radstadt und erhält in den 1960er Jahren einen Anruf aus Tirol, dass es seinem ehemaligen Pflegevater Alwin schlecht geht. Sofort setzt er sich in seinen Mustang, der ihm als Kultfahrzeug wertvolle Dienste bei seinen musikalischen Auftritten verschafft.

Die Reise geht den Inn entlang immer höher hinauf ins Gebirge und immer tiefer hinein in die Kindheit. Der Fluss führt Hochwasser und an seinen Ufern zittern die Leute, ob es nicht Überschwemmung gibt. Im gleichen Ausmaß schwillt der Strom in die Kindheit an, und der Erzähler ist sich nicht sicher, ob nicht auch die Dämme der Erinnerung jäh brechen.

In neun Stationen, einem verkürzten Kreuzweg nicht unähnlich, arbeitet sich der Erzähler zurück in die ersten Wahrnehmungen seiner Existenz, die er nicht in Worte fassen kann. Als lediges Kind wacht er eines Tages bei den Pflegeeltern Alwin und Rosa auf, die sich mit den kargen Mitteln der Nachkriegszeit redlich bemühen. Sie haben noch andere Pflegekinder angenommen, die aber jeweils von der Fürsorge abgeholt werden, sobald Luis mit ihnen familiär geworden ist.

Im Hintergrund werkelt auch der Pfarrer ordentlich mit, der offensichtlich dafür Sorge trägt, dass die sogenannte Bubenburg im Zillertal immer mit frischen Knaben aufgefüllt wird. Das Kind erlebt diese fürsorglichen Vorgänge stumm und wortlos, es schnappt Melodien aus dem Radio auf und singt zu allen passenden und unpassenden Situationen Vico Torriani und Caterina Valente. Und plötzlich geht eine emotionale Welt auf, die alle Probleme mit dem Erwachsenwerden vergessen lässt. Quasi im Stande der Unschuld erwächst eine Musikerkarriere, die auf Frohsinn und Vergessen aufgebaut ist.

Für den Erzähler stellt es eine große Herausforderung dar, das Unsagbare mit seinem Pflegevater zu besprechen. Einerseits ist es große Dankbarkeit, die er vermitteln will, andererseits hat er keine Sprache dafür, zumal Alwin selbst im Alter verstummt ist. Er hat sich völlig in sich selbst verkrochen und wartet auf das Ende.

Ähnlich wie die Musik ist der Fluss hilfreich beim Verfassen von Lebensweisheiten, es geht nämlich nur darum, das elementare Gesetz zu befolgen: Alles fließt.

Die Erinnerung verläuft in groben Schwarzweißbildern von Dorf, Landschaft und brachialen Mächten im Hintergrund. Jede Geschichte fußt auf Naturgewalten, die sich vom Himmel lösen und den Fluss anschwellen lassen. Jede Liebkosung löst sich von den irdischen Lippen der Pflegeeltern und verschwindet im Sog der Behörde. Dazwischen sitzt das Kind und wird erwachsen.

In dieses Schicksal vom musikalischen Kind, das sich einen eigenen Reim auf die Welt macht und letztlich das Lied davon singt, sind Ereignisse aus dem Chronikteil der Zeitungen und diverse Familiengeschichten eingebaut. 

Schon in den ersten Aufbauschritten nach dem Chaos des Krieges wird gesellschaftlich eine Auslese getroffen: Die Habenichtse werden von den Besitzenden abgetrennt, ihre Kinder kaserniert man nach dem späteren Nutzen für die Wirtschaft. Der Geist der Staatsfürsorge aus der Diktatur wird unreflektiert weitergeschrieben, weil niemand eine Idee hat, wie man es besser machen könnte. 

Nur die Musik ist in ihren Texten unverfänglicher geworden, in der Melodie hat sich wenig verändert, denn es gilt immer das Lied von der Gegenwart.

Robert Kleindienst gelingt mit der Figur des Luis ein berührendes Porträt seines eigenen Vaters, indem er aus einem harten Schicksal die weichen Bewegungen der Versöhnung mit sich selbst heraus zeichnet. Die Kindheit wird zu einem Flow voller Musikalität.

Robert Kleindienst: Das Lied davon. Roman.
Innsbruck: Edition Laurin 2023. 192 Seiten. EUR 22,-. ISBN 978-3-903539-30-3.
Robert Kleindienst, geb.1975 in Salzburg, Stadtschreiber von Kitzbühel 2007, lebt in Salzburg.



Wenn Ihnen schoepfblog gefällt, bitten wir Sie, sich wöchentlich den schoepfblog-newsletter zukommen zu lassen, und Freundinnen und Freunde mit dem Hinweis auf einen Artikel Ihres Interesses zu animieren, es ebenso zu tun.


Weitere Möglichkeiten schoepfblog zu unterstützen finden Sie über diesen Link: schoepfblog unterstützen

Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

Schreibe einen Kommentar