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Helmuth Schönauer bespricht:
Ulf Erdmann Ziegler
Eine andere Epoche
Roman

Staatstragende Romane sollten wenigstens zehn Jahre lang warten, ehe sie eine Gegenwart historisch abgekühlt beschreiben. Alles, was zu nahe an den aktuellen Kalender herangeführt ist, klingt nach Wahlkampf, Propaganda oder Streitschrift.

Ulf Erdmann Zieglers Roman „Eine andere Epoche“ spielt daher klugerweise im Jahr 2011, als in Deutschland erstmals das Bewusstsein entstand, dass es im Untergrund eine flächendeckende rechte Szene gibt.

Der Plot ist rasch erzählt und in jeder digitalen Chronik leicht abzurufen und nachzulesen. Nach einem missglückten Banküberfall sprengen sich in Eisenach zwei Neonazis mit ihrem Wohnmobil in die Luft, mit der Spurensicherung nimmt man es nicht so genau, und erst als in Zwickau die geheime Zentrale des „Untergrunds“ abbrennt, wird das Ausmaß der Verschwörergruppe sichtbar.

Bald darauf kommt es im Parlament zu einem Untersuchungsausschuss, in dem anhand des Behördenversagens die ganze Republik auf den Prüfstand gestellt wird, getreu nach dem Motto: In der Demokratie untersucht die Politik das Verbrechen, in der Diktatur wird die Politik von Verbrechern untersucht.

Der Schlüsselsatz des Romans fällt gleich zu Beginn: „In die Politik gerät man nicht, man will was!“ (8) Die Protagonisten drücken also der Zeitgeschichte ihre persönlichen Absichten in den Siegellack. Wenn man sie verstehen will, muss man ihre Lebensgeschichten studieren.

Im Roman werden diese Studien von Andi Nair, einem alten Haudegen der SPD, im Untersuchungsausschuss vorangetrieben. Ihm zur Seite steht sein Büroleiter Wegman Frost, der wegen seiner verdrängten Kindheit in Amerika zur SPD gegangen ist. Eine bemerkenswerte Rolle spielt zudem ein gewisser Flo, der einst als vietnamesisches Findelkind nach Deutschland kam und unschwer als ehemaliger FDP-Vorsitzender auszumachen ist.

Während es im Untersuchungsausschuss zum Abgleich verschiedener Lebensmodelle der Parteien und Protagonisten kommt, macht draußen das Boulevard Jagd auf den Bundespräsidenten Wulff, dem die Presse gerade jene Hand abfrisst, mit der sie Jahrelang qua Ehe-Trivialia gefüttert worden ist. Für alle gilt „ein Gerücht stabilisiert sich durch Dementis“. (40)

Alle diese Episoden erklären zwar nicht, warum die bislang staatstragenden Säulen Grundgesetz und Bundespräsident plötzlich in eine Krise geraten, aber sie zeigen einen Wendepunkt im Bestreben, einen gesamtdeutschen Staat blumig als Einheit zusammenzufassen.

Das Grundgesetz, als Provisorium bis zum Eintritt in eine Verfassung gedacht, stößt in der Verweigerung durch die Rechten an seine Grenzen. Und der über den Dingen schwebende Bundespräsident übernimmt sich mit Ehekrisen.

In der Folge erlebt der Büroleiter Wegmann Frost, dass es im Bundestag ähnlich zugeht wie bei ihm privat zu Hause. „Das Gleichgewicht der Kräfte wird am besten gewahrt durch Schweigen.“ (149) Mit seiner Patchworkfamilie kommt er immer dann am besten zurande, wenn er sie in Ruhe lässt und nicht in der Vergangenheit herumkramt. Auch seine eigene Kindheit hat er zu diesem Zweck in einen Traum verpackt: Er ist darin irgendwo ohne Eltern in einer Künstlerkolonie untergebracht und verbringt seine Zeit mit dem Zerlegen von Dingen.

Einmal ins Träumen geraten, schießt er auch noch geträumte Aufsätze nach, einer handelt vom Glück und stellt die These auf, dass die Rechten einzeln und die Linken im Kollektiv glücklich werden.

Der Traum vom Tresor führt den Träumenden in ein Casino, worin der Würfel explodiert, kaum dass man ihn in die Hand nimmt. Jemand ruft in die Explosion hinein: Das ist das Ende der Demokratie! (206)

Wieder erwacht, sind gerade die frischen Bundestagswahlen geschlagen. Der alte Andi Nair wird erpresst und wirft aus gesundheitlichen Gründen hin. Das halbe Abgeordnetenhaus ist abgewählt und alle versuchen, irgendwo unterzukommen. „Eine andere Epoche“ steht an, obwohl die alte noch längst nicht abgearbeitet ist.

Der Büroleiter lässt einen Laptop mit brisanten Daten verschwinden und nimmt einen Auszeit in Hongkong, um Chinesisch zu lernen. Die Frage bleibt: „Woher soll man ahnen, in welcher Zeit man lebt: ob es eine Zeit des Anfangs ist oder eine Zeit des Endes, eine der Hoffnung oder des Defätismus, eine laute oder eine leise?“ (214)

Ulf Erdmann Zieglers Thesen-, Partei- und Historien-Roman zeigt einen Haufen von Plastiksackerln, die mit verblassten Aufklebern durch den Ozean der Zeit schwimmen. Während das Material allmählich zerfällt, lässt sich noch erahnen, welche großen Dinge einst darin gesteckt sein mögen.

Ulf Erdmann Ziegler: Eine andere Epoche. Roman.
Berlin: Suhrkamp 2021. 253 Seiten. EUR 24,70. ISBN 978-3-518-43015-6.
Ulf Erdmann Ziegler, geb. 1959 in Neumünster, lebt in Frankfurt/M.


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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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