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Helmuth Schönauer bespricht:
Robert Misik
Das große Beginnergefühl
Moderne, Zeitgeist, Revolution

Eine Revolution ohne Optimismus ist schon gescheitert, ehe sie begonnen hat. So gesehen schreit die gegenwärtige Gesellschaft wenn nicht nach Revolution, so immerhin nach Optimismus.

Robert Misik kratzt für das große „Beginnergefühl“ zweihundert Jahre Kulturgeschichte der Moderne zusammen, um zu zeigen, dass hinter allen Veränderungen immer ein Stück Optimismus gestanden hat.

Das „Beginnergefühl“ ist ein Notat von Bert Brecht, verfasst mitten im Desaster des Zweiten Weltkriegs. Eines Vormittags schreibt er einfach das Gefühl vom Beginnen auf, und gibt sich dadurch einen Ruck, sich für die Zukunft bereit zumachen.

Robert Misik ordnet in seinem Essay die Künste und Epochen der letzten beiden Jahrhunderte unter einem aufregenden Blickwinkel: Das Gute einer Veränderung sehen wir erst, wenn wir uns vor Augen halten, was ohne sie geschehen wäre!
So gesehen hat es in der jüngeren Vergangenheit vermutlich mehr Revolutionen gegeben, als ein einzelnes Individuum zu fassen imstande ist. Das Individuum geht in solchen Zeiten gerne in Deckung und verbreitet den nörglerischen Sound, dass für oder gegen die Welt ohnehin nichts zu machen sei.

Im Vorwort kann sich der Autor freilich eine Schnellanalyse nicht verkneifen: Alle Veränderungen sind männlich und stammen aus reichem Hause!

In sechzehn Kapiteln wird anschließend das Beginnergefühl vorgestellt, das unverzichtbarer Baustein für Diskussionen, Essayistik und Ästhetik überhaupt ist.
Die wichtigsten Stationen dieses Durchlaufs ergeben zuerst ein Aha-Erlebnis, wenn etwa bei Honoré de Balzac die Gesellschaft selbst zu erzählen beginnt, bei Gustave Flaubert das Aufmüpfige mit der besseren Ästhetik gegen das Un-Aufgemüpfte punktet und Heinrich Heine in seiner politischen Publizistik vor allem mit Eleganz und Schwung beeindruckt. Wenn man einen Hänger in seinen Analysen hat, soll man etwas Heine lesen, dann kommt der Schwung von selbst in die Tastatur zurück (57), meint der Autor.

Allen Stufen dieser revolutionären Vorwärtsdynamik ist gemein, dass die Protagonisten das Morgen gewagt haben, ohne zuerst sicher zu sein, dass das Neue mindestens so funktionieren würde wie das Alte.

Den ersten Höhepunkt erlebt das Beginnergefühl im Wien der 1900er Wende, als sich so etwas wie die Revolution der Hofräte durchsetzt. Das Kaiserreich geht dem Ende zu, die Künstler sind durch die Bank aufgestachelt zum Experiment, und die Verwaltung befördert die Moderne, indem sie klug jeder Radikalität die Spitze nimmt. Es entsteht unter dem Mantel von Vorsichtl und Rücksichtl eine formidable Aufbruchstimmung, die im Politischen zur seltsamen Hochzeit von Kapital und Revolution führt.

Boheme und Kapital verstehen sich beispielsweise in der Figur des Victor Adler, der aus der Villa heraus die österreichische Sozialdemokratie entwickelt und im Abschluss seiner politischen Vision den berühmten Blick von der Monarchie aus in die Republik hinein setzen darf, ehe er eine Woche nach Ausrufung derselben stirbt.

Am Beispiel der Schöpfungsgeschichte österreichischer Sozialdemokratie lässt sich dieses Beginnergefühl bis heute klar herauslesen. Implizit meint der Autor, es wäre für die Gegenwart alles da, das Gefühl sei groß, man könnte jederzeit mit dem Revival dieser augenzwinkernden Hofräte-Revolution starten.

Von Victor Adler bleibt vor allem die Parallele zu Moses, der ja auch mit den neuen Gesetzestafeln im Nebel des Erbauungsgebirges hockt und verstirbt, ehe das Neue einsetzt.

Stilrichtungen wie Moderne, Avantgarde, Postmoderne oder Beatnicks lassen sich im Beginner-Reader als witzige Aufbruch-Essays lesen, worin die kanonisierte Literatur eingedampft wird auf ein paar wesentliche Gedanken, mit denen sich für das politische Update werben lässt.

Etwa dreißig Seiten Anmerkungen und zitierte Literatur erlauben es jederzeit, den vorgestellten Abriss als gesicherte Erkenntnis zu fixieren. So wird etwa jener revolutionäre Vorgang ausdrücklich gewürdigt, „als man ein Kunstwerk nicht mehr machte, sondern sich eines ausdachte.“ (141)

Um die Theorie aus dem Vorwort Lügen zu strafen, wonach vor allem reiche Männer das Beginnergefühl auf die Fahnen geschrieben hätten, widmet sich der Autor in zwei euphorischen Essays jenen zwei Literatinnen, die die Literatur messbar nach vorne gebracht haben.

Susan Sontag gilt lange Zeit als „It-Girl der Theorie“. Das heißt, wenn sie was schreibt oder kommentiert, ist die Chance groß, dass daraus nicht nur was Neues, sondern sogar was Neues mit Theorie wird. Alles kann Material sein, selbst der eigene Krebs! (192)

Elfriede Jelinek hingegen dekonstruiert vordergründig logische Aktionen, indem sie den ideologischen Befund wörtlich nimmt und ihn ad absurdum führt. Die Mitgliedschaft der späteren Nobelpreisträgerin bei der KPÖ resultiert nach dieser Lesart nicht einem Denkfehler, sondern der emotionalen Ironie: Sie will der Arbeiterschaft, die ja nicht lesen will, als Autorin nahe sein, indem sie das Parteibuch der Arbeiterpartei signiert.

In Österreich ist der Unterschied zwischen politischer und politisierender Kunst spätestens seit Thomas Bernhards Heldenplatz staatstragend aufgehoben. Das Burgtheaterstück ist ein Stück politisierendes Geplänkel, aber keine politische Kunst.

Die fließenden Grenzen zwischen den einzelnen Aktionen und Strömungen laufen schließlich auf eine tolle Definition hinaus: Postmoderne ist kein Stil, sondern eine Atmosphäre. (232). Die Gegenwart lässt sich beschreiben als Multiplizität der Stile, Eklektizismus plus Dystopie. (237)

Robert Misik weiß als Essayist, Moderator und Redenschreiber, dass man die Gedanken eines Buches in einen göttlichen Dreizeiler zuspitzen muss, sonst gehen sie in keinen Kopf hinein.

Aus diesem Grund gibt es abschließend einen „Gruß aus der Denker-Küche“. (247)
„Es braucht Gegnerschaft zum Zeitalter, aber auch Einverständnis mit demselben. Fickt die Ambiguitäten. Wahr ist vielmehr – um hier Marx zu paraphrasieren –, dass es alle Verhältnisse umzuwerfen gilt, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist. Victor Adler sagte einmal: Wir wollen nicht gemütlich sein.“

Robert Misik: Das große Beginnergefühl. Moderne, Zeitgeist, Revolution.
Berlin: Suhrkamp 2022. (= es 2788). 283 Seiten. EUR 18,50. ISBN 978-3-518-12788-9.
Robert Misik, geb. 1966 in Wien, lebt in Wien und bereichert Fellner-TV.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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