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Helmuth Schönauer
Geächtete Erlebnisse
Stichpunkt

Eine gute Methode, ein Kind ruhig zu stellen und als lästigen Zeugen auszuschalten, ist die abwinkende Bemerkung: „Denk doch mal genau nach, das hast du gar nicht so erlebt!“

Ähnliches widerfährt dem Schriftsteller, wenn er etwas gesehen hat, das für die große Erzählung von der schönen integrativen Welt nicht passend ist.

Ein Kollege aus der Steiermark, den ich für eine Glosse angefragt habe, schreibt von dieser „verbotenen Sehkraft“, die ihm das Schreiben journalistischer Rubriken vergällt hat. Ich darf seine Äußerung anonymisiert wiedergeben.

„Als ich einmal Zeuge einer Auseinandersetzung zwischen sogenannten Einheimischen und Zugezogenen wurde und dies als Konfliktsituation darstellte, welche am anderen Ende der Welcome-Kultur steht, wurde mir mein Erlebnis nicht nur zum Verhängnis, weil die Beteiligten unterschiedlich pigmentiert waren, sondern auch, weil es nicht wahr sein darf, dass es Konflikte gibt, wenn etwas mit dem weiten Geist der Caritas geregelt worden ist.“

Mein Erlebnis dieser Szene, wo in einer organisch gewachsenen Wohngemeinschaft eine leer gewordene Wohnung an eine traumatisierte Migrationsfamilie vergeben wurde, ohne jegliche Begleitmaßnahme der dort Einsäßigen, führte mich zur Behauptung: ‚Nicht nur der frisch ins Land geschleuste Asylwerber ist traumatisiert, auch die im Land Lebenden werden traumatisiert, wenn sie jäh und unvorbereitet mit ihm in Kontakt treten müssen!‘

Diese Überlegung löste einen sofortigen Shitstorm aus, da die Traumatisierung das Privileg von Asylwerbern zu sein hat. Und die Pigmentverteilung von beteiligten Personen hat ausgewogen zu sein, es geht nicht, dass eine Gruppe verächtlich gemacht wird, indem man zu viel Pigmente in ihren Gesichtern sieht. Und übrigens, wer sagt, dass du das überhaupt erlebt hast?

Die einzige Reaktion, die einem bei einem Shitstorm bleibt, ist das windschlüpfrige Zusammenducken, damit möglichst kein Widerstand aufgebaut ist und das ganze abziehen kann. In der Hocke und Ducke denkt man freilich an den schönen Volksmund: ‚Dem Angebrunzten ist es egal, ob die Pisse von einem Caritasmenschen oder einem Faschisten stammt.‘

Nach diesem Erlebnis sucht man wie in Trance nach anderen Erlebnissen, die einen Shitstorm auslösen könnten. Beispielsweise geben ehemalige Bundesheerangehörige vom Grenzeinsatz an, dass sie traumatisiert sind, wenn mehrere Menschen auf sie zulaufen und etwas rufen, was man nicht versteht. Hat man mit so einem Erlebnis Anspruch auf psychologische Betreuung? Darf man das erlebt haben?“

Ja schade, wenn jemand das Glossenschreiben aufgibt, weil das Publikum mit dem Medium überfordert ist. Mir laufen ja auch ständig Erlebnisse vor die Füße, die ich so gar nicht erleben dürfte.

Eine erfolgreiche Asylwerberin fragt mich, warum ihr Bruder in Zürich eine Wohnung mit Parkplatz bekommen hat, sie aber jedesmal angeflegelt wird, wenn der Bruder zu Besuch kommt und sein Auto auf den Privatparkplatz stellt.

Warum ist bei uns kein Parkplatz dabei? – Sie fragt ja nur.
Und ich erlebe es ja nur.

Sie kann ihren Frust ungefiltert aussprechen, weil sie ja noch nicht integriert ist. Ich muss mich darum kümmern, wie ich solche Sachen erlebe, aber nicht ausspreche.

Eine Glosse ist in diesem Fall der einzige Ausweg, um es irgendwie loszuwerden mit der Bitte, in der einsetzenden Pisse möge wenig Flüssigkeit sein.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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