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Helmuth Schönauer bespricht:
Norbert Gstrein
Vier Tage, drei Nächte
Roman

Es geht nichts über die Ironie, die sich über akademische Scheindiskussionen, pandemische Langzeitfolgen, Reproduktionsgelüste von Lebensmüden und Sollbruchstellen von ehemaligen Traumberufen legt.

Norbert Gstrein zwingt die Leserschaft noch vor der ersten Seite, den eigenen Standpunkt zu formulieren, sonst wird dieser alle paar Seiten ausgehebelt und in Frage gestellt. Am tiefsten wirkt sein Roman „Vier Tage, drei Nächte“, wenn man ihn mit jener eleganten Wegwerfbewegung liest, mit der ihn der Autor sinnlich und klug geschrieben hat.

Ein Geheimnis der Erzählkunst des „reifen Gstrein“ besteht darin, dass er Meta-Gedanken beim Schreiben und erwartbare Lektüre-Entgleisungen der Lesenden sachte „unterhebt“, wie das beim Verfertigen von Soufflé so schön heißt. „Auch die schlechtesten Romane haben ihre Wahrheit, wenn man sie richtig zu lesen versteht.“ (212)

Und für Rezensenten, die mit dem Stoff nicht zurechtkommen, hat er ebenfalls eine hilfreiche Mistgabel bei der Hand, mit der sich die Erzählmasse umstechen und auflockern lässt. „Es ist eine Dreiecksgeschichte, sagte sie. Gehobenes Milieu, alles aufgeklärte, tolerante Leute, und sie geht trotzdem auf katastrophale Weise schief.“ (319)

Schon die Ausstattung mit Personal und Orten spricht jedem großen Ding Hohn. Ein Geschwisterpaar aus einem Tourismusort in den Alpen zieht nach einem 08/15-Studium in Innsbruck in die weite Welt, indem er als Flugbegleiter arbeitet und sie einer Habilitation über Lyrik entgegentorkelt.

Da Geld keine strategische Rolle beim Erzählen spielen darf, hat die Schwester des Erzählers immer ein Haus, egal ob es in München oder Berlin steht. Zudem mietet sie manchmal eine Villa über Airbnb, wenn eine psychische Krise ansteht. Diese Reha-Anmietungen werden mit zwei Handgriffen von allen Vorgängern befreit und dienen als Grundstufe für therapeutisches Design: Die vorhandenen Bücher in den Regalen umdrehen, mit dem Schnitt nach vorne, und die restliche Wohnfläche mit Leintüchern verhängen wie bei einem Tschechow-Stück!

Die Geschichte handelt also von Protagonisten der Gegenwart, Ich-Erzähler Elias (Flugbegleiter), seine Halbschwester Ines (Lyrikhabilitantin) und der amerikanische Freund Carl (Erbe) sind Mitte dreißig und vom Weltgeschehen ziemlich abgekoppelt.

Sie treffen an verschiedenen Orten der Langeweile aufeinander und pflegen ein zeitgemäßes erotisches Verhältnis, mal ist jemand schwul, dann inzestuös, dann platonisch, dann nymphoman. Die sexuellen Klischeebegriffe aus der Unterhaltungsliteratur werden gnadenlos auf die Spitze getrieben, indem sich die Protagonisten fallweise im Bett zusammenkuscheln und den Leser raten lassen, was nun schon wieder unter der Decke geschehen wird. Phasenweise spielt der Vater im Hintergrund mit seinem dominanten Permanent-Auftritt die Hauptfigur.

Das Geschwisterpaar kriegt jeweils die Hälfte des Buches. Zuerst erzählt er aus intimem Blickwinkel heraus: „Sie ist meine Schwester.“ Dann wechselt der Standpunkt und der Ich-Erzähler nimmt eine Rolle an: „Ich bin ihr Bruder.“

Außer dem Pseudo-Dreh mit Subjekt und Objekt ändert sich nicht viel. Im Mittelpunkt steht die Frage, ob es so etwas wie Liebe und Sinnerfüllung geben kann, und ob man diese mit den Mitteln der Familienaufstellung erzählen kann.

Denn die beiden sind Opfer eines mittlerweile weitverbreiteten Gesellschaftszustands. Der nächsten Generation wird massenhaft Erbe in Form von Gütern und Konten übermittelt, aber kein Lebenssinn. So muss quasi eine ganze Generation in Quarantäne und Therapie, oder umgekehrt. Der Roman spielt nämlich zu Pandemiezeiten, wo man das Aneinanderkleben allmählich als Last empfindet, die man durch Therapeuten zu lindern versucht.

So erzählt der Held Elias nach der ersten Hälfte des Romans einer Innsbrucker Therapeutin eine Geschichte voller Schotter und Müll in der Hoffnung, dass es auf das Erzählen d´raufankommt, nicht auf den Inhalt. Diese Einstellung erweist sich beinahe als Dogma der Gegenwartsliteratur. Das greift Schwester Ines nach dem zweiten Teil auf und bittet, dass man als Ausweg gegen Pandemie und alles einfach erzählen soll. Es folgen drei Schottergeschichten aus dem Mund von Elias, Ines und Carl, letzterer erzählt auf amerikanisch.

Und wenn es schon ums Aufräumen der Seele geht, in einer Art Nachwort berichtet der Ich-Erzähler in Übereinstimmung mit dem Autor Gstrein davon, dass es in der Literatur keinen Unterschied zwischen Leben und Schreiben gibt. Was hingeknallt ist, ist das aufgeschriebene Leben, was der Leser aus der Schreibe herausholt, wird zu dessen Leben.

Der Icherzähler muss immer streng vom Autor getrennt sein, als Elias die Homepage des Hotels seines Vaters updatet, versucht er aus dem Familiennamen „Gstraun“ etwas Rustikales zu machen. Ständig werden Ich-Erzähler und Autor zueinander geführt und lachend wieder getrennt.

Auf diese Beschreibung einer aufgekratzten und orientierungslosen Generation ist die Geschichte des Vaters aufgesetzt, der in einem Schwarz-Weiß-Melodram vor Augen führt, was sich ein Gast vielleicht vorstellt, wie ein Tiroler Hotelier sein könnte.

Elias und Ines sind Kinder von verschiedenen Müttern, die zur selben Zeit im selben Hotel vom Vater geschwängert worden sind. Ines hätte „entsorgt“ werden sollen, aber ihre Mutter hat sie behalten, weil sich dadurch ein regelmäßiges Einkommen durch Alimente lukrierten ließ. Bei Gelegenheit eines Schiurlaubs im Vaterhaus erfahren die beiden nicht nur, wie sie innig verwandt sind, es gibt auch noch die Schwester Emma, die hinter der Grenze in einem Behindertenheim eingelagert ist, Vater schickt Geld und kriegt dafür herzergreifende Post, die mit „Tate“ überschrieben ist.

Vater regelt alles mit Geld und wundert sich, dass seine Kinder solche Versager im Tourismus sind. Als Ski-Opening führt er jeweils „Vier Tage, drei Nächte“ als Buchungssonderangebot durch. Elias muss dabei immer kellnern, was für ihn eine Unterwerfungszeremonie unter das Regime des Tourismus bedeutet. Als zu Beginn der Pandemie das Hotel samt Talschaft geschlossen wird, hält der Vater im Fernsehen eine kurze Wutansprache, die in ganz Europa mit Gelächter über die Tiroler goutiert wird.

Die Geschwister sind sich einig, sie wissen zwar nicht, was mit sich selbst und der Welt anfangen, außer ein bisschen Getränke austeilen beim Fliegen oder lyrische Paare im Habilitations-Stil miteinander reden zu lassen, aber so wie der Alte wollen sie nicht weitermachen.

„Vier Tage, drei Nächte“ kann man also als „Opener“ der literarischen Herbstsaison lesen. Andere Romane werden es schwer haben, an Norbert Gstrein, diesen Meister der Ironie und Verachtung des Literaturbetriebs, heranzukommen.

Norbert Gstrein: Vier Tage, drei Nächte. Roman.
München: Hanser 2022. 348 Seiten. EUR 26,80. ISBN 978-3-446-27398-6.
Norbert Gstrein, geb. 1961 in Mils/Imst, lebt in Hamburg.


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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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