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Helmuth Schönauer
Vom Nuscheln ermordet
Stichpunkt

Wahrscheinlich rätseln Sie auch, warum am Montagvormittag die Leute immer miteinander schreien, wenn sie sich auf der Straße, im Büro oder an der Tankstelle treffen.

Jahrelang glaubten wir, dass vielleicht Spionagesatelliten in der Nacht über unsere Köpfe flögen, um uns etwas einzupflanzen oder mit Strahlen einzubrennen im Hirn und anderswo, wo wir uns empfindlich glauben. Und nach solchen UFO-Nächten waren wir alle schwerhörig.

Jetzt freilich fällt es uns wie Schuppen von den Augen: Es war der Tatort!
Die ARD hat beschlossen, künftig die Tatorte mit einer klaren Tonspur auszugestalten.

In einer Verlautbarung, die vom ORF nur ungern zitiert wird, heisst es trocken: Somit reagiert die Fernsehanstalt, nachdem die Beschwerden einen sogenannten Peak erreicht haben. Der ORF ist ja besonders stark betroffen, beschickt er doch schon seit Jahrzehnten den Tatort mit einem Ermittlungspärchen, das knapp an der Untertitelung vorbeispielt.

Viele glauben voller Verzweiflung, das unbarmherzig zuschlagende Alter sei schuld daran, dass sie die Tatorte nicht mehr hören und sehen können, weil sie nichts verstehen. Ganze Jahrgänge aus den 1950ern fühlen sich ertaubt, vernachlässigt und isoliert, wenn sie den Bildschirm anmachen und nur Nuscheln wahrnehmen.

Besonders arg wird dieser Hörschaden im Sommer empfunden, wenn quasi im 24/7-Rhythmus die Tatorte auf allen Sendern ausgestrahlt werden. Wo immer du hinfährst, ob nach Dänemark oder Montenegro, überall nuschelt dir ein Tatort entgegen und macht dir deutlich, dass du der öffentlich rechtlichen Klaue nirgendwo am Kontinent entkommst.

Aber auch eine Flucht aus dem Hotel mit kleinem Abendspaziergang durch den Ort der Sommerfrische bringt nichts: Überall sind am Ortsrand Altersheime aufgestellt, deren Insassen bei offenem Fenster mit der Lautstärke eines Flutlichts Tatorte schauen.

Und seit die Maskenpflicht gefallen ist, schreien die Alten auch noch ins Programm hinein, wenn sie eine Wasserflasche für oben oder unten brauchen. Aber kein Personal hört die Alten, wie sie beim Tatort verdursten, mit den Augen rollen und halb verrecken, wenn sie Szenen aus dem Krimi im Bett liegend nachspielen.

Jetzt ist es amtlich: Das Genuschel geht objektiv auf die ARD zurück und nicht auf die vom Hörschmalz verkrusteten Gehörgänge der User. „Die Tonspur wird verbessert“, sagen die Fernsehmacher.

Vermutlich wird es das Ende des Tatorts sein, denn dieser lebt spätestens seit Schimanski vom Nuscheln und Untergrundfluchen. Allein er hat 29 x das Rauschen auf der Tonspur spielen dürfen.

Mittlerweile überbieten sich die alten und neuen Bundesländer mit ermittelnden Nuschelteams. Die sollen geräuschvoll unverständlich Bildstrecken untermauscheln, worin öde Motive aus dem Brachland mit luxuriösem Interieur von Villen gegeneinander geschnitten sind.

Der ORF dürfte weiterhin auf Gemauschel und Genuschel setzen, denn seit Hans Moser klopft sich das Publikum diesseits und jenseits von Braunau auf die Sommerschenkel, wenn es zu Marillenschnaps und Aprikosenkompott etwas Geflunker am Bildschirm gibt, bei dem man nichts zu verstehen braucht.

Der zeitgemäße Mord wir genuschelt!

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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