Print Friendly, PDF & Email

Helmuth Schönauer bespricht:
Mircea Cărtărescu
Melancolia
Erzählungen
A. d. Rumän. von Ernest Wichner
[Orig.: Melancolia, Bukarest 2019]

Es gibt rare Wörter, die eine Epoche, eine Kindheit, einen Kontinent oder eine Kunstrichtung beschreiben können. Melancholie ist das bekannteste davon.

Melancolia war einst im kalten Krieg ein Begriff, der den Künstlern hinter dem Vorhang (wir hielten uns damals als davor angesiedelt) einen gewissen politischen Spielraum gab, in einer kollektivierten Gesellschaft ein privates Gefühl auszudrücken. Zwar gehörte auch die Psyche der Öffentlichkeit, aber die Melancholie konnte privat bleiben, sie galt als das intimste Gefühl eines Individuums.

Mircea Cărtărescu knüpft mit seinen Erzählungen an diesen kalten Mythos von damals an, zumindest die Lesenden aus der Vor-Vorhang-Zone lassen sich gerne von der romantischen Aura in sich gekehrter Seelen anwehen. Dabei sind die Definitionen dieses Zustandes magisch und realistisch zugleich. Für die Welt des Traumes gehört die wirkliche Welt zum unwahrscheinlichsten Gefilde. (215)

Dabei zeigen die drei Haupterzählungen [Die Stiege (23) / Die Füchse (80) / Die Häute (133)] drei Facetten eines einzigen Zustands. Ein Kind durchlebt die Welt als Kind, das noch im Neutrum verharrt und erst allmählich die Züge eines Jungen annimmt. – Ein Geschwisterpaar versucht ohne Hilfe von Erwachsenen die Kindheit hinter sich zu lassen. – Ein Jugendlicher häutet sich in der Pubertät und steht plötzlich schutzlos und fragil in einer Welt, für die die Metamorphose des Körpers nicht ausreicht.

Erzähltechnisch sauber eingekeilt zwischen Prolog und Epilog zeigt ein erzählendes Ich die zwei Hauptzustände des Schreibens. In der voraus gestellten Erzählung Der Tanz landet das Ich auf einer unerforschten Insel, die in der Hauptsache aus einem umkämpften Ausgang besteht. Jeder, der aus Versehen, Neugierde oder Abenteuerlust auf der Insel in Gestalt eines leeren Palastes landet, muss beim Verlassen des Areals mit einem Anti-Türhüter kämpfen.

Während bei Kafka der persönliche Türhüter Obacht gibt, dass niemand ins Reich der Erlösung eintritt, verwehrt bei Cărtărescu der Wärter den Rückzug aus der Palast-Insel. Dieser Wächter entpuppt sich nämlich als eine Art Spiegelbild, das jede Handlung synchron nachäfft und dadurch unüberwindlich ist. Am ehesten kann man diesen Wärter noch überwinden, indem man mit ihm tanzt statt zu kämpfen. Aber letztlich scheitern alle Versuche, dem unheimlichen Palast zu entfliehen, am eigenen Atem.

Im Epilog Das Gefängnis hingegen findet sich der Ich-Erzähler in einem Gefängnis wieder, ohne zu wissen, was er eigentlich angestellt hat. Ihm bleibt als Zeitvertreib nur, Spiele zu erfinden, die etwas nachspielen, was man nicht kennt. Im finalen Spiel geht es darum, das Ende der Wörter als generelles Ende nachzuspielen. (266)

Die Melancolia selbst wird in drei Stufen ausgerollt. Dabei handelt es sich immer um Metamorphosen, indem aus dem Kind ein Junge wird, aus einem Geschwisterpaar ein Überlebensduo und aus Pubertierenden adulte Schmetterlings-Ikonen.

In der Erzählung Die Stiege (239) kehrt die Mutter vom Einkauf nicht mehr zurück. Das Kind ist die meiste Zeit als sächliches Wesen unterwegs und bewegt sich geschlechtslos zwischen den weiten Flächen der Einsamkeit. Das Zimmer, die Wohnung, der Hof, die Häuser: Alles birgt die Melancholie in sich, selbst die Jahreszeiten sind zwar unterschiedlich ausgeformt, zeigen sich letztlich aber unbeirrt als leere Gefühlsflächen.

Später taucht eine Stiege auf, welche die Illusion erweckt, man könne das Niveau verändern, wenn man sie besteigt. Das Kind erarbeitet sich ein grammatikalisches Geschlecht und tritt ab und zu als der Junge auf, aber an seinem Zustand ändert sich nichts. Der Junge starb vor Einsamkeit. (50) Der Morgen beginnt im Bad wie immer. Er schaute sich in die Augen und versuchte, sich wenigstens an ein paar Dinge aus seinem früheren Leben zu erinnern, zumindest daran, wie er hieß und wie alt er war. (31) Aber die Erinnerungen enden als heftig schmerzende Flamme der Nostalgie.

Allmählich ist der Junge in einem Warenhaus aufhältig, die dort vorgestellte Welt ist in sich abgeschlossen, die Gegenstände sind in einem Schaumodus ausgestellt, in einer Koje liegt in einem Sarg die Mutter wie eine Ware. (57)

Die Mutter passt sich allen Welten an, aus der Kinderstube ist sie verschwunden, im Warenhaus ist sie ein Konsumgut, in einem Traum fasst sie sich ein Herz und wandert über ein Gebilde aus Korallenstufen einem neuen Zustand entgegen.

Zusammen mit dem Jungen verharrt sie auf der letzten Stufe des Schlafes. (79)
In der Erzählung Die Füchse (80) wachsen zwei Geschwister heran, erst sind sie noch geschlechtslos, aber allmählich treten sie als Marcel und Isabel auf. In der Hauptsache führen sie ihre Spielsachen spazieren und unternehmen sonst so allerhand Sachen, die Geschwister eben so auszuführen haben.

Dabei entsteht eine besondere Art der Sensibilität. Wenn sie das Haus verlassen, stoßen sie alsbald auf gefrorene Äcker, wo jene Füchse hausen, die eben noch in einem Bilderbuch zu sehen waren. Und auch der Wind fasst sich ein Herz und liest den Geschwistern was vor, wenn sie schon ein Buch in der Hand halten. Mutter ist verschwunden, aber den Geschwistern erscheint es, als ob sie manche Fragen hinterlassen hätte. Wie schneit das Schicksal? (132)

Ziemlich makaber geht es in der dritten Erzählung Die Häute (133) zu. Ein Junge ist voller Melancholie und derart einsam, dass er über Wochen und Monate nicht einmal mit sich selbst mehr sprach, bis er auch sich selbst verlassen hatte.

Ab und zu steht er vor dem Kleiderschrank, wo er seine Häute aufgehängt hat. Beim Wachsen ist die Haut stets zu eng geworden und einem Reptil gleich schlängelt sich der Junge von Zeit zu Zeit aus der Haut. Jetzt ist er fünfzehn und hat die letzte Häutung hinter sich.

Auch in dieser Erzählung spielt sich vorerst alles geschlechtslos ab, aber dann quetschen sich Ivan und Dora aus ihren Häuten. (166) Nicht nur wegen der eigenen Haut sind sie einsam, es herrscht Melancholie pur. Der Sonntag fügte der wilden Einsamkeit der Orte noch eine transparente Lackschicht hinzu. (149) Selbst eine Haltestelle ist nach einem Dichter der Einsamkeit benannt und heißt rumänisch Singuratate.

Allmählich kommen einander die beiden näher, indem sie beispielsweise ein Kaufhaus durchstreifen, wo Kleider, Schaufenster Puppen und mechanische Schädeldecken ausgebreitet sind. Bring mir deine letzte Haut, (187) sagt Dora schließlich und eröffnet ein neues Kapitel der Zuneigung. Wie im Biologieunterricht gelernt, geht es um eine Verpuppung, aus der schließlich das Mädchen als ikonisierter Schmetterling hervortritt.

Wie in Kafkas Verwandlung schreitet die Metamorphose stetig voran. Bei dieser Gelegenheit reißt sie gleich die gesamte Literatur mit sich. Es gibt keine Dichter mehr. Jetzt ist alles Dichtung, sagte der Käfer mit seiner krächzenden Stimme. (245)

Melancolia ist eine politische Haltung, jenseits von Regimen und politischen Zuständen. Sie trifft das Individuum genauso wie ein Staatsgefüge, die Literatur genauso wie die Politik. In ihrer Kernschmelze ist Melancholia der ideale rumänische Roman.

Mircea Cărtărescu: Melancolia. Erzählungen. A. d. Rumän. von Ernest Wichner. [Orig.: Melancolia, Bukarest 2019.]
Wien: Zsolnay 2022. 269 Seiten. EUR 25,90. ISBN 978-3-552-07305-0.
Mircea Cărtărescu, geb. 1956 in Bukarest, lebt in Bukarest.




Wenn Ihnen schoepfblog gefällt, bitten wir Sie, sich wöchentlich den schoepfblog-newsletter zukommen zu lassen, und Freundinnen und Freunde mit dem Hinweis auf einen Artikel Ihres Interesses zu animieren, es ebenso zu tun.


Weitere Möglichkeiten schoepfblog zu unterstützen finden Sie über diesen Link: schoepfblog unterstützen

Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

Schreibe einen Kommentar