Helmuth Schönauer bespricht:
Konrad Paul Liessmann
Lauter Lügen und andere Wahrheiten
Essays
Was für ein Cover! – Lauter Lügen | Lauter Lügen | Konrad Liessmann | Lauter Lügen. Der Philosoph steht mitten unter den Lügen.
Konrad Paul Liessmann ist mit den beiden Tugenden Selbstvertrauen und Selbstironie gesegnet, was vor allem den Lesern zugute kommt. Denn je nach Strenge des Gedankens ist man geneigt, sich manchmal der übersteigerten, dann wieder der lustigen Seite des Denkens zuzuwenden.
Lauter Lügen ist eine Essaysammlung aus den Jahren 2016 bis 2022. Als philosophische Überlegungen wurden die Texte in der Neuen Zürcher Zeitung und Kleinen Zeitung abgedruckt.
Beide Zeitungen haben hohes Renommee, wenn auch ein verschieden gewickeltes Publikum: dem liberalen Schweizer Freigeist steht auf der anderen Seite der klerikal Österreichische Kleingeist gegenüber.
Die Essays freilich sind so offen gestaltet, dass sie an beiden Segmenten andocken können. Die Texte greifen scheinbar naheliegende Themen auf, wie diese oft im Wochenrhythmus von der Öffentlichkeit gespielt werden.
Der erste Rausch der Leserbriefe ist dabei schon verdunstet, jetzt hat der Denker die Chance, zum Thema etwas zu sagen, indem er auf ähnliche Alltagsvorfälle in der antiken Philosophie, bei herausragenden Denkern, oder einfach bei Chronisten vor hundert Jahren verweist. Alles, was heute philosophiert wird, ist nämlich schon einmal in der Vergangenheit philosophiert worden!
Aus dem Themenschwall arbeitet der Autor freilich sechs Über-Themen heraus, die in regelmäßigen Abständen unseren Alltagsdiskurs durchziehen.
Lauter Lügen (11) handelt von den diversen Verschwörungstheorien, die momentan vor allem im Internet gepusht werden, das lange als Ort der Unschuld und Aufklärung gegolten hat. Der Autor empfiehlt, diesen Texten durchaus mit Emotion zu begegnen, aber nicht mit moralischem Gestus, sondern mit der Lust nach Unterhaltung. Wenn man die Verschwörungstheorien als Bestenliste liest, wie sonst vielleicht die Romane der Saison, wird das Vergnügen groß sein. Denn eines muss man auch Verschwörungstheoretikern lassen: sie sind mindestens so pfiffig und schlau wie die sogenannten echten Theoretiker.
Saubere Säue (51) beschäftigt sich mit Säuberungen in Wort und Tat. Der Traum jedes Säubernden ist es dabei, einen frivolen Sachverhalt auf jemand anderen zu schieben, der jenes Wort ausspricht, das man insgeheim selbst denkt. Am Beispiel eines Schwarzfahrers, der ob seines Tuns als Wort zwar erschrickt, aber nicht den Sachverhalt ändert, zeigt sich, wie skurril Wortangst und Wortverbot ausschlagen können.
Trotz aller dümmlichen Anfeindungen lohnt es sich freilich, gute Literatur gegen diese dümmlichen Vorwürfe zu verteidigen. Gute Literatur ist nämlich meist jene, welche zu wenig leidenschaftlich verteidigt wird. In diesem Sinne ist Karl May durch die Leidenschaft seiner Leser gute Literatur.
In guter Gesellschaft (89) kümmert sich unter anderem um das Phänomen, dass jeden Tag neue Ängste auftauchen, um den Diskurs in den diversen Blättern am Laufen zu halten. Wenn die Angst zur Kenntnis genommen ist, wird sie ad acta gelegt. So haben wir eine Menge moderner Ängste und unzeitgemäßer Angstablagerungen. Manches davon wird auch zum Spleen, indem jemand alte Gegenstände sammelt, einem alten Zeitgeist huldigt oder gar Manieren am Leben erhält, die als unzeitgemäß gelten.
Seichte Sprache (129) ist ein Thema, das es mindestens seit der Einführung der Schrift gibt. In der aktuellen Ausprägung geht es darum, dass in diversen Medien die Nachrichten in einer leichten Sprache dargestellt werden, manche verweisen auf diesen Service, auf dass er Migrierenden entgegenkomme, die der Sprache noch nicht mächtig sind. Nach diesem Geschäftsmodell des Sprechens bleibt freilich das Ringen um den Gedanken auf der Strecke.
Es ist wie beim Strom: Wenn er keinen Widerstand in der Leitung hat, kann er nicht fließen. Die Bildung zeigt sich in diesem seichten Sprachmodell als Splitter, und die letzten Denkenden fragen, wo war dazu die passende Explosion?
Im Notstand (167) sind jene Glossen überschrieben, die sich als wöchentliche Aufrufe zwischen Pandemie und Klimawandel in die Zeitung geschlichen haben wie Fehl-Aufrufe einer gelähmten Regierung. Die Touristen treten wieder an die Oberfläche und sind lästiger denn je. Während der Pandemie nämlich haben sie entdecken müssen, dass sie sinnlos sind. Niemand braucht sie und auch ihnen selbst gibt es keinen Sinn mehr, in Massen wegzufahren und durch ausgeschilderte Pfade zu trampen. Trotzige Touristen sind jene, die es trotzdem machen, weil es ja immer nur die anderen sind. Der Tourist wird zur Fratze der eigenen Identität als Bodenständiger.
Werte im Wandel (211) verweist noch einmal eindrücklich darauf, dass nichts so volatil ist wie der Wert. Ein Wert ist in der Philosophie genau das, was morgen sicher nicht fix ist. Je mehr sich also Politik und Geschäft auf Werte kaprizieren, umso verlorener sind diese bereits.
Die Lügen bzw. Wahrheiten, die und von denen Konrad Paul Liessmann am laufenden Band erzählt, sind unterhaltsam, frech und scheinbar ohne Moral. Aber die Denkweise ist kohärent, man kann sich bei der Lektüre des einen Essays mit Sicherheit auf die Kraft eines anderen verlassen.
Allmählich entsteht daraus eine sogenannte Denke, die der Wahrheit mindestens so nahe kommt wie die sogenannte Lüge.
Konrad Paul Liessmann: Lauter Lügen und andere Wahrheiten.
Wien: Zsolnay 2023. 253 Seiten. EUR 26,80. ISBN 978-3-552-07342-5.
Konrad Paul Liessmann, geb. 1953 in Villach, ist Professor für Philosophie in Wien.
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