Helmuth Schönauer bespricht:
Stefan Soder
Café Selig
Roman

Wer rechtzeitig aus dem Studium aussteigt, kann immer noch hochglänzender Barkeeper oder Bundeskanzler werden.

Stefan Soder siedelt seinen Roman „Café Selig“ um ein studentisches Quartett an, das betroffen feststellt, dass man den Sinn des Lebens nicht inskribieren kann. Die Location Bar erweist sich als gesellschaftliches Labor, worin geforscht, getestet, resigniert und resümiert wird. In Soders früheren Romanen haben Club (2015), Simonhof (2017) oder Tour (2019) als Orte der Auseinandersetzung fungiert.

Die Handlung ist wie in einem Kammerschauspiel auf vier Personen eingedampft, die ein ziemlich umfangreiches Programm zu bewältigen haben. Der Beginn ist noch romantisch und liegt daher in den goldenen Endjahren des letzten Jahrhunderts.

Vier Studierende geben ein Studentenmagazin heraus, das nach einem Bericht über Burschenschaften die Unschuld verliert und mit unausgesprochenen journalistischen Gesetzen konfrontiert wird.

Die großen Einschnitte kommen über Nacht und sind nicht planbar, lautet die Lehre aus dem gekünstelten Burschenschaftler-Bericht. Nach dieser Logik ist die Jahrtausendwende auch keine Zäsur, denn die gefeierten Nullen in der Jahreszahl bringen keine Veränderung, außer dass sich die zwei Frauen und zwei Männer ab jetzt mit sich selbst beschäftigen, die Studien rasch hinter sich bringen und die Welt mit einschneidenden Maßnahmen zu verändern gedenken.

Ruhepunkt dieses Quartetts ist der Ich-Erzähler, der durch seinen Ausstieg aus der Welt flotter Laufbahnen die Geschichte am Rennen hält. Denn im aktuellen Jahrhundert werden die Karrieren immer kürzer, hektischer und unplanbarer. Nur wer, wie der Erzähler, jahrzehntelang hinter einem Biertresen steht und die Leute vorbeiziehen lässt, statt ihnen nachzurennen, kann etwas vom Lauf der Welt verstehen.

Als Gegenspieler zum Erzähler, der sich prekär im Cafe Selig eingerichtet hat, dort arbeitet, schreibt und schläft, hat sich der ehemalige Kompagnon Hans Hase herausgemausert. Er fungiert bei dubiosen Firmen und Parteien als geheimer Pressesprecher, seinen letzten Schliff erhält er als Lobbyist in Brüssel.

Die Frauen Elena und Ulrike machen Karriere als investigative Journalistin und Gesicht der Nation in einem öffentlich rechtlichen Kanal. Die Positionen Welt-Verbesserung, Welt-Aufklärung, Welt-Darstellung und Welt-Rückzug kommen sich ständig in die Quere, weshalb bei den Protagonisten allerhand los ist.

Im Laufe des Romans hat jede mit jedem zu tun, von der familiären Idylle über Homo-Ehe, Adoption und künstliche Befruchtung reichen die Maßnahmen zur Reproduktion, die nach der Uni das wichtigste Lebensziel dieser Generation ist.

Als die öffentlichen Karrieren und intimen Liebschaften kreuz und quer durchgespielt sind, bleibt der Erzähler mit seinem Café als Moderator einer entgleisten Welt übrig. Aus allen Gegenden kommen die Helden wieder zurück und werden Stammgäste, die im Notfall ein Gulasch bestellen, das auf keiner Speisekarte steht.

Der Prekariats-Cafetier hat seit den Nuller-Jahren wohl alles aufgeschrieben, und probiert es jetzt als Schriftsteller. Der erste Versuch scheitert – plastisch dargestellt – an jenem Tag, als eine Spedition eine LKW-Ladung unverkaufter Exemplare in die Bude bringt und der Verlag Konkurs anmeldet.

Der zweite Entwurf für eine Schreiber-Karriere setzt auf verrücktes Marketing: Der Autor kauft so lange seine eigenen Werke auf, bis nachgedruckt werden muss und der Verkauf ins Rollen kommt. Leider geht ihm inzwischen das Geld aus, sodass es wieder nichts wird.

Überleben kann der Schriftsteller erst, als der Besitzer des Cafés stirbt und ihm Beisl und Wohnung hinterlässt. Merke: Nur wer erbt, überlebt!

Die wahren Lebensweisheiten kommen nach dem Tod zum Vorschein! Als der Vater stirbt, wird die Kindheit des Erzählers aus der Sicht der Eltern gestreift. Das Wichtigste für ein sinnstiftendes Leben sei die Ironie, sagt die Mutter, während sie im Café das Geheim-Gulasch bestaunt. Und diese Ironie habe der Held nie gehabt, so dass nur ein Standplatz hinter der Bar für ihn vorgesehen war.

Die Protagonisten haben die Träume mittlerweile aufgegeben, weil das Leben anders strukturiert ist als ein Studium. Da sprudelt im Hintergrund des Romans eine mysteriöse Geschichte auf, die scheinbar als Utopie in die nähere Zukunft führt.

In dieser „gesellschaftlich relevanten“ Story poppen jene Karriere-Bausteine auf, mit denen der inzwischen abgetakelte Wunder-Bundeskanzler so gut gefahren ist. Darin ist die Welt ein Marketing-Store im Format eines Hochschulmagazins.
Chats werden lausbübisch herumgeschickt, in immer kürzeren Sätzen wird ausgelotet, wer ein Freund oder Feind sein könnte. Die Tages-Programme gehen nie über jenen Zeitpunkt hinaus, an dem die Pressekonferenz des Tages abgeschlossen ist. Der Inhalt all dieses Treibens ist „Wording“.

Als alles geordnet erzählt und im Kasten zu sein scheint, packt den Erzähler noch einmal die Lust, etwas aufzudecken. Der Wunder-Hans reüssiert nämlich mit einem Demokratiemodell, worin eine Künstliche Intelligenz wöchentlich abfragt, was die Leute wollen, und anschließend diese Wünsche erfüllt.

Diese „KI“ ist in einem Programm namens ALBA zu Hause, was soviel wie „Algorithmus zur Besserstellung Aller“ bedeutet. Das Programm verbessert sich selbst und alle haben den Eindruck, dass es endlich gerecht zugeht, weil niemandem etwas weggenommen wird und alle Wünsche wöchentlich befriedigt werden.

Als der Wunder-Hans wieder einmal im Stammcafé Selig hockt, rollt ihn der Erzähler auf, indem er die wahren Zusammenhänge der Künstlichen Intelligenz decouvriert.

Eine KI ist aufgebaut wie ein Pyramidenspiel, je näher man ihr ist, umso höriger horcht sie auf einen. Täglich wird der Besitzer der KI mächtiger, während die Benützer in immer größere Abhängigkeit gedrängt werden. Während die KI gewartet wird, wird sie heimlich nachjustiert. Die KI hat nämlich längst gelernt, dass es auf das Wording ankommt. Wer dieses beherrscht, beherrscht auch das Programm zur Besserstellung Aller.

Solche Erkenntnisse lassen sich nur im Café Selig gewinnen, oder im Roman von Stefan Soder!

Stefan Soder: Café Selig. Roman.
Wien: Braumüller 2022. 288 Seiten. EUR 24,-. ISBN 978-3-99200-325-9.
Stefan Soder, geb. 1975 in Kirchberg in Tirol, lebt in Wien.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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