Helmuth Schönauer bespricht:
Gerd Busse
Typisch belgisch
Belgien von A bis Z

Wenn die EU sich Brüssel als Hauptstadt unter den Nagel gerissen und ihre Nationen als austauschbares Ganzes eingebracht hat, ist dann noch etwas übrig für „typisch belgisch“?

Und wenn die Globalisierung alles verschiebbar oder universal-kompatibel gemacht hat, muss dann nicht jedes Land erst recht aufstehen, um sich mit ein paar typischen Dingen eine Restidentität zu verschaffen, ohne gleich in den Nationalismus überzuschwappen?

Bücher über Länder sind mittlerweile fast immer zu touristischen Formel-Sammlungen verkommen. Im over-touristisierten Tirol etwa greift man händeringend nach Büchern, die schelmisch, augenzwinkernd und dennoch soziologisch spitz ein Land beschreiben, das ähnlich wie Südtirol aus zweieinhalb Sprachkulturen besteht.

Gerd Busse, der gelernte Soziologe und grandiose Übersetzer, zeigt gleich im Vorwort, worauf es ihm bei „typisch belgisch“ ankommt: Belgien ist ein wenig surreal, benützt die drei Sprachen Niederländisch (Flämisch), Französisch und Deutsch und verbindet die französische Küche mit deutschen Portionsgrößen.

Wenn man das Buch in Kreisbewegungen liest, kommt man Belgien sehr nahe, denn Belgien ist meist eine Drehung um sich selbst in Selbstironie.

So lassen sich die einzelnen Kapitel als Lexikonbeiträge lesen, die jeweils zu einem vergnüglichen Essay ausgewachsen sind. Die Querverweise bringen die Leser immer wieder auf Kurs, wenn ein Gedankengang an den Rand des Absurden führt.

Das Absurde nämlich ist ein gutes Fundament, auf dem diverse Künste, soziale Errungenschaften und vor allem Selbsteinschätzungen fußen. Am besten wird dieses Phänomen in Belgierwitzen dargestellt, vor allem wenn Niederländer sich über Belgier lustig machen, wobei diese eifrig nicken und sich erst recht freuen, wenn sie im Witz in die Pfanne gehauen werden.

Musterwitz: In den Niederlanden steht auf der Milchpackung im Supermarkt „Hier öffnen“, in Belgien steht dort „Zu Hause öffnen“.

Als Schlüsselbegriff für das typisch Belgische wird mehrfach „Dienstbetoon“ (92) erwähnt. Frei übersetzt geht es um eine Sonderform des Klientelismus, am ehesten mit der österreichischen Freunderlwirtschaft zu vergleichen. Die Grenzen zwischen Korruption und Volksnähe sind fließend, in seiner idealen Urform handelt es sich einfach um eine Sprechstunde, die der Politiker im Café abhält, um sein Ohr an den Volksmund zu halten.

Ein großer belgischer Gestus dürfte darin liegen, dass man Fehler, Katastrophen und Hässlichkeiten zur Kenntnis nimmt, aber pragmatisch damit umgeht, ohne sich deshalb einen Katzenbuckel an schlechtem Gewissen einzufangen. Der Völkermord im Kongo belastet das Land noch nach Generationen, aber die Belgier nehmen es zur Kenntnis, dass ein schlechtes Gewissen nichts bringt.

Ähnliches geschieht auch beim Thema Kollaboration mit den Nazis, die zum Unterschied von den Niederlanden kaum aufgearbeitet wird. Erst als Hergé mit „Tim und Struppi“ 1944 von Widerstandskämpfern mitten im Nazisumpf ausgemacht wird, korrigiert man die Rezeption und genießt die politisch korrekten Strips umso mehr.

In der Architektur hat sich der Begriff vom hässlichen belgischen Haus eingenistet. Ein Mittelding zwischen Baracke und Schuppen steht Pate für Gebäude, bei denen man nicht weiß, ob sie schon abgerissen oder erst im Entstehen sind. Auch hier ist die Reaktion ein Achselzucken, denn im Innen sind diese Häuser ja nicht hässlich, und immerhin wohnt der Belgier ja im Innern seiner Häuser.

Anhand von Kriminalfällen und Korruptionslinien wird zwischendurch die belgische Seele ausgemacht, wenn es um einen berüchtigten Kindesmörder oder um einen Hubschrauberskandal geht. Natürlich passen diese Geschichten gut in ein belgisches Bild sozialen Desasters, dann aber blättert man um und liest, dass es sich beim belgischen Gesundheitssystem um das beste der Welt handelt.

In diesen Koordinaten sollte man auch noch die „Sterbehilfe“ (283) verorten, die unauffällig funktioniert und wahrscheinlich einen ähnlich leisen Sterbetourismus nach sich zieht wie in den Niederlanden oder in der Schweiz.

Die touristischen Sehenswürdigkeiten sind wohltuend zurückgefahren, natürlich könnte man ganze Bücher über Antwerpen oder die Ardennen schreiben und was es darin alles zu sehen gibt. Gerd Busse plädiert mit seinem „soziologischen“ Reiseführer aber für einen individuellen und thematisch fundierten Zugang zum Land.Also wirklich einmal hässliche Häuser anschauen und sich über das Kichern der Bewohner freuen, die beim Fenster herausschauen und denen es gut geht!

Als Übersetzer und Literaturfachmann greift Gerd Busse oft auf Analysen zurück, die in der niederländischen, belgischen oder flämischen Literatur in fiktionalen Texten zur Debatte gestellt werden. Allein das „Belgien-Bild“ im siebenbändigen „Büro“-Roman von J.J. Voskuil ist lesenswert. Darin erforscht der Held seine Nachbarn als historisch liebevoll aufgepäppelte Gartenzwerge. Die Einschätzung zwischen Bewunderung und Kopfschütteln ist wahrscheinlich die ehrlichste, die sich gegenüber einem „typisch“-Cluster anwenden lässt.

Zwischen den Sprachen des Landes wird fast nichts übersetzt, heißt es einmal lakonisch. Das deckt sich mit einem Befund über Südtirol, wo man ja auch davon ausgeht, dass jemand, der lesen kann, alle nötigen Sprachen beherrscht.

Ein rasantes, warmherziges und gestochen scharfes Bild über die typisch belgischen sozialen Wetterlagen!

Gerd Busse: Typisch belgisch. Belgien von A bis Z. Abb.
Eupen: GEV / Grenz-Echo-Verlag 2022. 352 Seiten. EUR 17,-. ISBN 978-3-86712-169-9.
Gerd Busse, geb. 1959 in Visbek, lebt in Dortmund.


Wenn Ihnen schoepfblog gefällt, bitten wir Sie, sich wöchentlich den schoepfblog-newsletter zukommen zu lassen, und Freundinnen und Freunde mit dem Hinweis auf einen Artikel Ihres Interesses zu animieren, es ebenso zu tun.


Weitere Möglichkeiten schoepfblog zu unterstützen finden Sie über diesen Link: schoepfblog unterstützen

Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

Schreibe einen Kommentar