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Helmuth Schönauer bespricht:
Peter Hofinger
Seelen-Abwasser
Auf dem Weg zum Erwachsenwerden

Peter Hofinger wählt mit seiner Selbstbeschreibung der Kindheit eine Erzählform, die Elemente der Zeitgeschichte und der pädagogischen Vertuschung mit den Mitteln seufzender Autobiographie und transzendenter Bewusstseinserweiterung durch Esoterik bedient. Kraftvolle Literatur hat meist einen Anlass, und ihr Segen besteht darin, dass sie diesen Anlass überwindet.

Der Titel Seelen-Abwasser deutet auf Ungemach bei der Entsorgung von Konflikten hin. Der physiologische Stoffwechsel scheint bei der erzählenden Person durch psychische Beeinflussung gestört worden zu sein.

Die Aufzeichnungen beginnen mit einem Knalleffekt: Die Blase macht eines Tages zu, als wolle sie dem Blaseninhaber etwas mitteilen. Der Betroffene lässt sich medizinisch tapfer abklären, vermutet aber bald, dass es sich um eine alte Geschichte aus der Kindheit handelt, die jetzt endlich erzählt werden muss.

Vom eigenen Körper in Anspannung versetzt, versucht der Ich-Erzähler seine Kindheit so zu erkunden, dass Nachfahren und Zeitgenossen eine gewisse allgemeingültige Wahrheit daraus schöpfen können.

In dieser Kindheit ist viel schiefgelaufen, aber der Erzähler ist dann irgendwie doch noch erwachsen geworden und hat schließlich als gelernter Sozialarbeiter und als Buchhändler Lebensfrieden und Lebenssinn gefunden

Jeder Generation wird üblicherweise ein gewisses soziales Handicap zugeschrieben: die einen leiden unter Migration, die anderen unter Armut, die dritten als Scheidungskinder.

Für die meisten, denen in der Kindheit in den 1950er Jahren etwas daneben gegangen ist, gilt als Ursache des Unglücks die Dreifaltigkeit: Katholisch – männlich – Internat.

Der Held macht eine katholische Zwangserziehung mit frommer Mutter durch, ist nur von Brüdern umgeben und landet schließlich im Internat. Dort entwickelt er sich zum Bettnässer, wahrscheinlich eine Antwort auf das Erziehungsdesaster.

Die Eltern meinen es natürlich gut mit ihm, aber sie sind überfordert. Sie leiten in den Nachkriegsjahren ein Elektrogeschäft, und die hellen Momente bestehen in der genauen Watt-Angabe der Glühbirnen. Schon früh weiß der Kleine, was sich zwischen 15 und 150 Watt alles an Erleuchtung abspielen kann. Außerdem tut sich zwischen Schein und Sein eine immer größere Kluft auf.

Während die Geschäftsleute als angesehen gelten, gehen die Geschäfte schlecht.
Konkurs, das Zusammenbrechen der Eltern, der frühe Tod des Vaters, Loslösung aus dem Internat, ständiges Herumziehen und schließlich seltsame Erfahrungen bei einem Praktikum als Sozialarbeiter lassen die Erkenntnis wachsen, dass die Welt nie so ist, wie sie sich zeigt.

Wie bei jedem Heranwachsenden besteht das Problem der Erziehung darin, dass man nicht weiß, was wichtig ist und was nicht.

Der Erzähler hilft sich damit, dass er alles für gleich wichtig hält, zumindest für so wichtig, dass daraus eine Geschichte entsteht. Da wird das Buch auch fallweise recht komödiantisch, wenn verschiedene Kämpfe mit den Brüdern geschildert werden, die Vernichtung eines Eintags-Statussymbols eine Lebenskrise auslösen kann, und das eigene Tun plötzlich unerwartete Nebenwirkungen hat.

Einmal leiht sich der Heranwachsende vom älteren Bruder ein Zelt aus unter der Bedingung, es nach Gebrauch trocken zu refundieren. Als der Bruder Monate später mit dem Zelt zu einem erotischen Ausritt aufbricht, stellt sich das Gewebe als verschimmelt heraus. Eine Unachtsamkeit des Einen führt zu einer Tragödie des anderen, denn dieser muss sein erotisches Erlebnis wieder bei Null beginnen.

Wahrscheinlich sind es diese kleinen Aufmerksamkeiten und Fahrlässigkeiten, die den Autor dazu bringen, schließlich an den winzigen Momenten zu arbeiten, den Dingen auf den Grund zu gehen mit einer große Harmonie zu flirten, die offensichtlich darauf wartet, berührt zu werden. So in etwa entsteht aus dem ehemaligen HAK-Schüler mit Schwerpunkt Buchhaltung ein Lebensberater Marke Buchhändler.

Das geordnete Wasserlassen gilt oft als die erste Erziehungsmaßnahme, die ein Mensch über sich ergehen lassen muss. Gelingt es nicht, rächt sich die Blase verlässlich, und sei es mitten im Glück des reifen Alters.

Seelen-Abwasser ist der Versuch, sein Leben durch sachte Erinnerung von Kindheitskrämpfen zu befreien.

Dieser Bericht vom Erwachsenwerden ist eine letztlich positiv gestimmte Resonanz auf ein Erziehungsmodell, das gut gemeint, aber flächendeckend schiefgegangen ist. Das Buch ist ein wichtiger Bestandteil für das sogenannte emotionale Archiv. Darin werden neben Dokumenten, Zeitzeugenberichten und journalistischen Meldungen auch jene Fakten beschrieben, die nicht fassbar sind. Aber erst sie runden die Einschätzung einer Epoche ab.

Peter Hofinger: Seelen-Abwasser. Auf dem Weg zum Erwachsenwerden.
Norderstedt: BOD 2023. 245 Seiten. EUR 17,40. ISBN 978-3-748-14141-9.
Peter Hofinger, geb. 1955 in St. Johann in Tirol, 33 Jahre Buchhändler, lebt in Mieming.


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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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