Helmuth Schönauer
Bin Osttiroler.
Bitte eine Watsche!
Stichpunkt

I.
Ein Mythos ist wie ein Autoreifen: Wenn das Profil abgefahren ist, muss man ihn austauschen oder man kassiert ein Bußgeld.

Der Mythos vom originellen Osttiroler, der sich womöglich eine Baumhütte gebaut hat und darin Reimmichl liest, weil er gerade lesen und schreiben gelernt hat, ist so ein „glatzerter Reifen“, wie man in der Sprichwort-Sprache sagt.

Dennoch wird dieser Mythos Tag für Tag gepflegt durch den Original-Reporter Happy-Hippi, der in seinen Lokalbeiträgen von wertvollen Bewohnern erzählt, die einmal im Schindel-Schnitzen, Bronze-Gießen, Blasmusik-Moderieren oder In-die Drau-Springen einen Weltrekord aufgestellt haben.

Das Tragische ist, dass sich die Bewohner in Folge selbst für ulkige Genies halten, die schon mal bei der Verkehrskontrolle darum bitten, dass man ihnen ein Strafmandat ausstellt, weil sie als „wilde Hund“ unterwegs sind.

Eigentlich bitten sie um eine Watsche, wie sie es seit Jahrzehnten beim Krampuslaufen vor den ausländischen Kameras tun. Und wenn ihnen einmal im späten Suff wirklich einer eine runterhaut, sind sie gekränkt und jammern, dass man ihre Osttiroler Gene so primitiv herabwürdigt.

Kurzum, wenn von Osttirolern die Rede ist, dreht man mit Freude den Universalsender auf, von dem man sich nicht abmelden kann.


II.
Dieser Tage gerieten wieder zwei Osttiroler in das aufgeregte Licht der Öffentlichkeit.

In Innsbruck wurde eine Tourismusfrau vorgestellt, von der man nicht viel zu erzählen wusste, außer dass sie Osttirolerin ist. Und in Wien startete der Bundespräsident auf den Angelobungstisch zu und musste irritiert feststellen, dass der Osttiroler fehlt. Ihm war nämlich mitgeteilt worden, dass im Angelobungsrudel auch ein solcher dabei wäre.

Freilich hatte sich der in der Vorfreude auf sein Amt mit dem Virus infiziert und musste ins Homeoffice. Und eine Angelobung per Zoom war dem Herrn Bundespräsidenten dann doch zu modern, der Osttiroler hätte es wahrscheinlich gut hingekriegt, weil er ja an Fernschaltungen gewöhnt ist.

Bei der Osttirolerin, die jetzt die Innsbruck-Marke touristisch nach vorne schieben soll, ist das staatstragende Pathos bemerkenswert, mit dem sie vorgestellt worden ist. Tourismus ist also nicht ein bloßes Geschäftsmodell, worin Fachkräfte arbeiten, sondern auch noch etwas Geheimnisvolles, wo du Mythen-Träger brauchst, damit alle in die Knie gehen vor Verzückung.

„Bitte sag Osttiroler zu mir!“ ist als Flehen zu verstehen, einer jeden, die Osttiroler sein muss, wenigstens den Amtsantritt zu erleichtern.

Wobei man die wirklich intelligenten Osttiroler daran erkennt, dass sie nie darüber sprechen. Wie der berühmte Musiker Bernhard Gander aus Thurn, der als österreichischer Komponist geschätzt wird und auf den abgefahrenen Mythos von den genialen Osttirolern großzügig verzichtet.


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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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